Kollege
Paulus
Angst, Schuld,
Nicht-weiter-wissen, Liebe, Religion
All das kam Ende des Jahres
1924 in der kleinen Universitätsstadt Marburg
zusammen, als die Studentin Hannah Arendt sich beim Philosophieprofessor
Martin Heidegger vorstellt. Sie ist 1906 geboren und knappe 19, als der
36jähtige sie zu einem ausführlichen Gespräch empfängt. Beider Reaktion auf
dieses Treffen ist von einer Vehemenz, die sie nicht erwartet hatten. Heidegger
schreibt ihr: Das Dämonische hat mich getroffen. Das ist ein Zitat.
Daimon nennt Goethe das Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir
kannst du nicht entfliehen...
Hannah erlebt es ebenso.
Liebe, Leidenschaft, heimliche Treffen. Ich hätte mein Recht zu leben
verloren, wenn ich meine Liebe zu dir verlieren würde. Schwärmerei? Ist sie
allzu jung, um sich zu „erden“?
Ist sie nicht. Sie verlässt
Marburg ausschließlich deinetwegen, um in Heidelberg weiter zu studieren. Der mit Heidegger befreundete
Philosoph Karl Jaspers promoviert sie. Die Doktorarbeit behandelt den
philosophischen Liebesbegriff bei Augustinus. Jaspers gibt ihr die schlechtestmögliche
Beurteilung, weil er ahnt, sie verarbeitet eine persönliche Erfahrung und
weniger die Theologie des Kirchenvaters.
Jaspers täuscht sich nicht.
Hannah will sich von Heidegger lösen und
heiratet. Es hilft nicht, sie trifft ihn, wann immer es möglich ist, und
schreibt ihm, dass jedesmal, wenn sie ihn sieht, die Kontinuität meines
Lebens wieder entzündet wird, die Kontinuität unserer – lass mich bitte sagen –
Liebe.
Bei Augustinus sucht sie die
theologische Basis für einen Neuanfang. Der Mensch werde geboren, findet sie beim Kirchenvater, damit ein
Anfang sei. Der Kirchenvater stützt sich auf Paulus, der als Saulus von Tarsus
mit einem Trupp Soldaten durch die Wüste nach Damaskus zog, um Reste der Terroristen auszulöschen, die unter dem
Namen Christen bekannt waren. In einer Vision erschien ihm der Gekreuzigte und
beauftragte ihn, unter dem Namen Paulus allen Menschen, auch Heiden, die Frohe
Botschaft zu predigen.
Paulus zog um das Mittelmeer,
gründete christliche Gemeinden und schrieb die berühmten Briefe (Episteln), die
Bestandteil der christlichen Heiligen Schrift sind. Lebt nicht wie Menschen,
die ohne Hoffnung sind. Das kostbarste Blut ist für euch geflossen. Man bat
ihn, die Botschaft Jesu kurz und bündig zu übermitteln. Wenn ich in den
Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre
ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden
könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich
alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die
Liebe nicht, / wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte / und
wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, / hätte aber die Liebe nicht,
/ nützte es mir nichts. Die Liebe ist langmütig, / die Liebe ist gütig. / Sie
ereifert sich nicht, / sie prahlt nicht, / sie bläht sich nicht auf. Sie
handelt nicht ungehörig, / sucht nicht ihren Vorteil, / lässt sich nicht zum
Zorn reizen, / trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das
Unrecht, / sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, / glaubt
alles, / hofft alles, / hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
/Prophetisches Reden hat ein Ende, / Zungenrede verstummt, / Erkenntnis
vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, / Stückwerk unser prophetisches
Reden; wenn aber das Vollendete kommt, / vergeht alles Stückwerk. Als ich ein
Kind war, / redete ich wie ein Kind, / dachte wie ein Kind / und urteilte wie
ein Kind. Als ich ein Mann wurde, / legte ich ab, was Kind an mir war. Jetzt
schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber
schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, /
dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch
erkannt worden bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; /
doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Hannah Arendt und ihr zweiter
Ehemann Heinrich Blücher mussten aus dem Machtbereich Deutschlands fliehen. Sie
war Jüdin, er Kommunist trotzkistischer Richtung. Heidegger erhoffte sich von den Nazis ein
Ende bestimmter Erscheinungen der Emanzipation. Aus der populären Kultur ist
der Schlager überliefert: „Du bist verrückt, mein Kind, Du musst nach Berlin.
Da wo die Verrückten sind, da gehörst du hin.“ Berlin war Sinnbild dessen, was
in süddeutscher Provinz, wo Heidegger als Universitätsrektor amtete, unmöglich
war. Das Ehepaar Arendt/Blücher lebte sich in New York ein. 1950 bereist Hannah
Europa im Auftrag einer jüdischen Organisation, um Überbleibsel jüdischen
Lebens und jüdischer Kultur zu registrieren und zu sichern.
Heidegger ist jetzt kein
angesehener Professor mehr, die Parteinahme für die Nazis wird ihm, als einem
König des Denkens, besonders übelgenommen.
Hanna weiß nicht, ob sie ihn
wiedersehen will. Durch ein Zusammentreffen im Hotel kommt es zustande. Er
bittet sie in seine Wohnung, seine Frau Elfriede werde dabei sein; doch
Elfriede ist nicht da, er ist mit Hannah allein. Sie schreibt ihm am Tag danach:
Dieser Abend und dieser Morgen sind die Bestätigung eines ganzen Lebens…,
als stünde plötzlich die Zeit stille. Da kam mir blitzartig zu Bewusstsein,
was ich vorher nicht mir und nicht Dir und keinem zugestanden hätte, dass mich
der Zwang des Impulses… gnädig bewahrt hat, die einzig wirklich unverzeihliche
Untreue zu begehen und mein Leben zu verwirken. Aber eines sollst du wissen…,
hätte ich es getan, so nur aus Stolz, dh aus purer reiner verrückten Dummheit.
Nicht aus Gründen.
Sie ist jetzt eine
erfolgreiche verheiratete Frau. Meisterschülerin des bedeutendsten Philosophen
des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sie ihn nannte. Sein Werk hat sie bis zu
ihrem Tod betreut und verbreitet. Er sei nicht auf ein System aus gewesen, die
Welt zu erklären. Heidegger ging aus von jedes Menschen Erfahrung, dass
Lebewesen sterben müssen. Daraus entwickelte er Wege des Denkens, um mit der
Tatsache auch eigener Endlichkeit fertig zu werden. Hannah Arendt vertrat auf
der Basis ihrer theologischen Studien die Auffassung, es reiche nicht, als
Individuum tapfer zu sein. Man müsse die Öffnung weltlicher Räume ermöglichen,
in dem die tapferen Einzelnen miteinander sprechen, und Lösungen für Probleme
suchen.
Dass mit jeder Geburt ein
Neuanfang gesetzt sei, der gänzlich unerwartete Lösungen bringe, hat sie nie
bezweifelt. Jesus von Nazareth habe die abendländische Ethik durch den Begriff
der Vergebung bereichert. Und wer war Jesus? Ein Wanderprediger in Sandalen.
Jeder Mensch könne neu anfangen, immer.
Da war nun wieder die
Heidegger’sche Aufforderung: Wähle dich selbst und lebe nicht das Leben
anderer. Als Hannah im März 1962 ein Schädeltrauma erlitt, fragte sie sich, ob
sie noch als sie selbst weiterleben werde. Sie überprüfte ihr Gedächtnis auf
Daten. Die Telefonnummer ihres Mannes. Die Geburtsdaten Martin Heideggers.
Beruhigt stellte sie fest. Alles noch da.
Einem Brief, den er ihr
schrieb, legte er ein Gedicht von Rilke bei. Sternenfall. Was ist
verschuldet und was ist verziehn.