Samstag, 20. August 2016

Einundzwanzigster Brief


Emile Zola: „La vérité est en marche, et rien ne l’arrêtera.“

Modifiziert von Georg Lukásc 1957 in seinem Postscriptum in MEIN WEG ZU MARX:
„La vérité est lentement en marche, et à la fin des fins rien ne l'arrêtera.“

„Es geht offensichtlich einem neuen Krieg entgegen“, warnte Josef Stalin bereits Anfang 1934 den XVII. Parteitag der KPdSU (B). Wie 1914 hatten aggressive Mächte begonnen,  eine Neuaufteilung der Weltmärkte durch Krieg zu erzwingen. Stalin:
„Der Krieg Japans gegen China, die Okkupation der Mandschurei, der Austritt Japans aus dem Völkerbund und der Vormarsch in Nordchina haben die Lage noch mehr verschärft. Die Verschärfung des Kampfes um den Stillen Ozean und das Anwachsen der Rüstungen zur See in Japan, den Vereinigten Staaten, England, Frankreich bilden das Ergebnis dieser Verschärfung.“
„Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und das Revanchegespenst haben einen neuen Anstoß zur Verschärfung der Lage und zum Anwachsen der Rüstungen in Europa gegeben.“
Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt betont Stalin, dass die Sowjetunion bereit sei, mit jedem Staat Friedensverträge abzuschließen. Sie werde konsequente Aufbaupolitik des eigenen Landes betreiben und sich nicht in fremde Händel verstricken lassen. 
Also schon 1934 wird die Möglichkeit eines Friedensvertrages auch mit Nazi-Deutschland konstatiert:
„Gewiss, wir sind weit davon entfernt, von dem faschistischen Regime in Deutschland entzückt zu sein. Doch handelt es sich hier nicht um den Faschismus, wie allein die Tatsache zeigt, dass der Faschismus zum Beispiel in Italien für die UdSSR kein Hindernis war, die besten Beziehungen zu diesem Lande herzustellen. Es handelt sich auch nicht um vermeintliche Änderungen in unserer Stellung zum Versailler Vertrag. Uns, die wir die Schmach des Brester Friedens ausgekostet haben, liegt es fern, den Versailler Vertrag zu lobpreisen. Nur sind wir nicht damit einverstanden, dass die Welt dieses Vertrages wegen in den Abgrund eines neuen Krieges gestürzt werde. Dasselbe ist von der vermeintlichen Neuorientierung der UdSSR zu sagen. Wir hatten keine Orientierung auf Deutschland, ebenso wenig wie wir eine Orientierung auf Polen und Frankreich haben. Wir orientierten uns in der Vergangenheit und orientieren uns in der Gegenwart auf die UdSSR und nur auf die UdSSR. (Stürmischer Beifall.) Und wenn die Interessen der UdSSR eine Annäherung an diese oder jene Länder erheischen, die nicht an der Störung des Friedens interessiert sind, so sind wir dazu, ohne zu schwanken, bereit.“
Winston Churchill wusste, welch ungeheure Gefahr den Demokratien drohte, falls sie das Waffenbündnis mit Stalin ablehnten. Daher sein leidenschaftliches Eintreten für die Annahme des Angebots vom 10. März 1939.
Stalin  hatte sich bereits fünf Jahre zuvor eine zweite Option vorbehalten: den Nichtangriffspakt mit dem Dritten Reich. Und was Churchill bekannt war, wusste auch Hitler. Kurz bevor er am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg auslöste, schickte er seinen Außenminister zu Friedensverhandlungen nach Moskau. Der Abschluss des Paktes schockierte die europäische Linke. Sie hatte nicht gelernt, Tatsachen zu lesen.
Dass aber Stalin von Anfang an Hitlers Rassengreuel gutgeheißen haben soll, scheint nicht zu stimmen. Stalin 1934:
"Bekanntlich blickte das alte Rom auf die Vorfahren der heutigen Deutschen und Franzosen genauso, wie jetzt die Vertreter der „höheren Rasse“ auf die slawischen Stämme blicken. Bekanntlich betrachtete das alte Rom sie als „niedere Rasse“, als „Barbaren“, die dazu bestimmt seien, für alle Ewigkeit der „höheren Rasse“, dem „Großen Rom“, unterworfen zu sein, wobei übrigens - unter uns gesagt - das alte Rom dazu einigen Grund hatte, was man von den Vertretern der jetzigen „höheren Rasse“ nicht sagen kann. (Beifallssturm.) Was ist aber dabei herausgekommen? Herausgekommen ist dabei, dass sich die Nichtrömer, das heißt alle „Barbaren“, gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlossen und Rom über den Haufen rannten. Es fragt sich: Wo ist die Garantie, dass die Prätensionen der Vertreter der jetzigen „höheren Rasse“ nicht zu denselben kläglichen Ergebnissen führen werden? Wo ist die Garantie, dass die schriftstellernden faschistischen Politiker in Berlin mehr Glück haben werden als die alten kampferprobten Eroberer in Rom? Wäre es nicht richtiger, das Gegenteil anzunehmen?"   
Quelle: Rechenschaftsbericht des ZK an den XVII. Parteitag der KpdSU (B). Auszüge. Der gesamte Text unter stalinwerke.de im Internet. Band 13 anklicken.

Die Gastgeberin der deutschen Emigration in USA, Salka Viertel, in ihren Lebenserinnerungen „Das unbelehrbare Herz“, spricht günstig über die Behandlung von Juden in der Ukraine unter sowjetischer Besatzung:

„Der letzte Akt der grauenhaften deutschen Tragödie, der Nürnberger
Prozeß, ging zu Ende. Es war erstaunlich, wie wenig Interesse er er-
weckte.
Überlebende aus Dachau und Auschwitz trafen in den Vereinigten
Staaten ein - kläglich wenige nur. Die eintätowierten Zahlen an ihren
Armen, ihre Augen, in denen noch die Schrecken geschrieben standen,
die sie gesehen hatten, bereiteten mir schlaflose Nächte.
Mr. Warner erzählte uns, wie er auf einer vor kurzem unternomme-
nen Europareise Matisse besucht und spottbillig Bilder französischer
Maler gekauft hatte. Dann kam die Rede auf die kommunistische Gefahr,
und Warner sagte, der Antisemitismus in Rußland sei ebenso brutal und
grausam wie in Deutschland. Immer noch würden Tausende von Juden
umgebracht. Ich erwiderte, ich wisse von meiner Mutter, die zwei |ahre
unter sowjetischer Herrschaft gelebt hatte, daß ofliziell kein Antisemitis-
mus existiere und es keine Pogrome gebe. In meiner Heimatstadt Sambor
seien die Juden während der sowjetischen Besetzung anständig behandelt
worden. Als ich erwähnte, daß meine Mutter seit 1941 bei mir lebte,
wollte Warner wissen, wie ich sie herausgeholt hatte, doch mein Mitau-
tor unterbrach mich und sagte lächelnd: «Salka ist Kommunistin, Mr.
Warner.» Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es klang wie ein Angriff;
Blanke kam mir sofort zu Hilfe. «Das ist sie nicht !» sagte er. «Es bedeutet
doch nicht, daß man Kommunist ist, wenn man die Ansicht vertritt, daß
man den sowjetischen Antisemitismus nicht mit den Verbrechen der
Nazis vergleichen kann.»
«Man kann ihn aber durchaus mit dem Antisemitismus in Amerika
vergleichen», sagte ich. «Er ist in Rußland ebenso verfassungswidrig wie
hier und trotzdem nicht auszumerzen. Ich glaube, alle waren meiner
Meinung, denn niemand leugnete, daß es in Amerika Antisemitismus
gab, und damit war die Diskussion beendet. Die Probevorführung war ein
großer Erfolg, und Mr. Warner sagte mir, daß er das Drehbuch ausge-
zeichnet finde. Es war das letzte Mal, daß ich in einem großen Studio
arbeitete.

Quelle: Salka Viertel, Kapitel 42 in „Das unbelehrbare Herz“,
Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films.
1970 Claassen Verlag, 1979 Rowohlt TB.


Freitag, 19. August 2016

Zwanzigster Brief


"The truth is incontrovertible. Malice may attack it, ignorance may deride it, but in the end, there it is." Winston Churchill

Ich habe gelernt, Tatsachen zu lesen. Also nicht, was hier oder dort als Tatsache gemeldet wird, sondern was Tatsachen sind und nicht Faktoide. Dass ich richtig liege, merke ich, wenn Prognosen, die ich auf zwei Jahre ansetze, sich in oder nach dieser Zeit als zutreffend erweisen.
Es gibt aber einen überzeugenderen Beweis. In Zeitungsbeiträgen, die Winston Churchill alle vierzehn Tage von 1936 an in vielen Ländern veröffentlicht hatte, war aufgelistet, dass der deutsche Führer und Reichskanzler Adolf Hitler den Krieg vorbereitete. Die Engländer und insbesondere ihre Regierung unter Premierminister Neville Chamberlain wollten damals glauben, dass Hitler den Frieden wollte - wie dieser das immer wieder in öffentlichen Reden versicherte und durch seine Diplomaten in London vortragen ließ.
Churchill begründete zahlengenau, dass Hitler den Krieg plante. Einen Krieg, für den England nicht vorbereitet und nicht gerüstet war, und den es nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit verlieren würde – falls die Regierung nicht sofort umsteuerte, um England zu retten.
Doch die Regierung hörte auf Churchill nicht, er war als Kriegstreiber verschrien, Chamberlain und seine Minister verachteten ihn geradezu. Er sei, hieß es in der auf Regierungskurs gleichgeschalteten britischen Presse, aus bloßer Eitelkeit darauf aus, sich wichtig zu machen, sich in den Vordergrund zu spielen: ein Clown, der die von ihm und niemand sonst (so hieß es allenthalben!) verschuldete furchtbare Kriegsniederlage gegen Deutschland und die mit ihm verbündete Türkei bei Gallipoli vergessen machen wolle.   
Tatsachen fielen nicht ins Gewicht gegen diese massive Propagandawelle.

Endlich am 10. März 1939 pflichtete ein einziger ausländischer Regierungschef Churchill bei. Es war Josef Stalin. Auch er warnte öffentlich vor einem Weltkrieg und verband seine Warnung mit einem Angebot an die nichtaggressiven Staaten, England und Frankreich vor allem, mit Sowjetrussland ein Waffenbündnis zu schliessen. Eine solche Allianz werde die aggressiven Staaten Japan, Italien und Deutschland davon abhalten, ihren bereits begonnenen Weltkrieg auf Europa auszudehnen.
Japan hatte Nordchina besetzt, Italien Abessinien, Deutschland Nordspanien angegriffen. Der Krieg reichte also bereits vom fernen Asien über Afrika bis an die Atlantikküste, weshalb Stalin vom bereits begonnenen Weltkrieg sprach.
Churchill reagierte mit leidenschaftlicher Vehemenz.


Quelle :
Winston S. Churchill
SCHRITT FÜR SCHRITT
1936-1939
2. Auflage 1940
ALLERT DE LANGE
AMSTERDAM

Im Original: Step by Step.
Ins Deutsche übertragen von Franz Fein


DAS RUSSISCHE GEGENGEWICHT

4. Mai 1939

(Auszug)
Die Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffs-
paktes von 1934 ist ein ausserordentlich ernster und bedroh-
licher Schritt… Stillschweigend wird damit Polen zu ver-
stehen gegeben, dass es jetzt in der Zone potentieller An-
griffe liegt...
Aber der Regierung Polens muss mit der grössten Deut-
lichkeit klargemacht werden, dass die ernsthafte und gründ-
liche Mitarbeit Sowjetrusslands im Friedensblock der Na-
tionen für die Verhütung des Krieges ausschlaggebend sein
kann und auf jeden Fall für den Enderfolg notwendig sein
wird…
Vor allem darf keine Zeit verloren werden. Schon sind
zehn, zwölf Tage vergangen, seitdem das russische Angebot
gemacht wurde…
Ohne die aktive Mithilfe Russlands gibt es keine Möglich-
keit, eine Ostfront gegen Naziangriffe aufrecht zu erhalten.
Russland hat das grösste Interesse daran, die Durchführung
von Herrn Hitlers Anschlägen in Osteuropa zu verhindern.
Noch sollte es möglich sein, alle Staaten und Völker von der
Ostsee bis zum Schwarzen Meer in einer gemeinsamen festen
Front gegen neue Frevel oder überfälle zusammenzu-
schliessen. Eine solche Front kann, wenn sie mutig und mit
energischen, wirksamen militärischen Massnahmen errichtet
wird, im Verein mit der Macht der Weststaaten noch Hitler,
Göring, Himmler, Ribbentrop, Göbbels & Co. Kräfte gegen-
überstellen, die das deutsche Volk nur sehr ungern heraus-
fordern würde.


DAS ENGLISCH-TÜRKISCHE BÜNDNIS

15. Mai 1939

(Auszug)
Die Folgen des englisch-türkischen Bündnisses, auf das
jetzt zweifellos rasch ein französisch-türkisches Bündnis fol-
gen wird, können kaum überschätzt werden. Eine neue sta-
bilisierende Kraft von überwältigendem Ausmass ist im
Mittelmeer wirksam geworden.
… Die den Westmächten ge-
gebene Möglichkeit, durch die Dardanellen und das Schwar-
ze Meer mit Russland Kontakt zu haben und in Verbindung
zu bleiben, hat sich als lebensnotwendig für die Verteidigung
Osteuropas in einem Krieg gegen deutsche Invasionen er-
wiesen. Der Weizen und der Handel Südrusslands hat nun,
solange die britische und die französische Flotte das Mittei-
meer beherrschen, freien Zugang zu den Weltmärkten, und
umgekehrt kann alles, was an Kriegsgeräten und Roh-
materialien gebraucht wird, zu den russischen Häfen im
Schwarzen Meer geschafft werden.
… Wenn Russland und
die Türkei die Herrschaft über das Schwarze Meer verlören,
könnte jeder Hafen an seinen Küsten die Landungsbasis
für den deutschen ,,Marsch nach dem Osten" werden, von
dem schon so lange die Rede ist. In der Tat, es gab niemals
eine selbstverständlichere Einheit der Interessen als die der
Anrainer des Schwarzen Meeres. Wenn sie nicht zusam-
menhalten, müssen wieder unendliche Leiden ihr Los sein.



Sonntag, 14. August 2016

Neunzehnter Brief

Der andere Abschied vom Mississippi - diesen Titel hatte ich ursprünglich für meinen dritten Kriminalroman vorgesehen, den Rowohlt als "zu marxistisch" abgelehnt hat und der dann im Fischer Verlag unter dem Titel Rote Messe erschienen ist, wo er kürzlich neu aufgelegt wurde.
Anscheinend rundet sich meine literarische Laufbahn, denn auf diesen alten Titel komme ich jetzt zurück, um eine neue Erzählung zu skizzieren. Sie wird eine überraschende Erklärung für die Staatskrisen bieten, die wir seit nun schon vielen Jahren im Süden und Südosten erleben.
Das Material meiner neuen Story beziehe ich aus vier Informationsquellen. Genauer, ich stütze mich auf Äußerungen von zwei Investment-Experten, die sich in der allmorgendlichen press review des BBC London geäußert haben, ferner auf einen Finanz-und Wirtschaftsexperten, den ich in einer Fernsehsendung der deutschen Teleakademie hörte, sowie einen deutschen Experten für die Entwicklungsprobleme von emerging economies. 

Zuerst einer der Londoner Investment-Berater. Er sagte: "There are now dozens of trillions of dollars floating around the globe looking for a home." Zu deutsch: Derzeit fließen Dutzende von Billionen Dollar um den Globus und schauen nach einer Heimat aus; gemeint ist, dass sie nach einer profitablen Anlagemöglichkeit Ausschau halten.
Denn Kapital ist nicht daran interessiert, Maschinen oder Lebensmittel oder Handys zu produzieren, oder was wir sonst benötigen. Kapital will Gewinn produzieren. Das lerne ich aus Statistiken, die der Finanzexperte der Teleakademie vorgestellt hat. Demnach ist es nicht mehr besonders profitabel, in irgendwelche Produkte zu investieren, die wir kaufen können. Die Produktion von Autos, Agrarerzeugnissen oder auch Elektronik wirft seit vielen Jahren immer weniger Gewinn ab und ist daher für Kapitaleigner unattraktiv.
Daher haben die Verwalter großer Kapitalien - um den Kreislauf des Geldes aufrecht zu erhalten - neue Produkte erfunden. Es sind Finanzprodukte, sogenannte Derivate. Indem zum Beispiel alte Schulden zu "Paketen" zusammengefügt und als risikolos bewertet wurden, konnten sie mit hohem Gewinn verkauft und wiederverkauft werden.
Ohne dass ich im Einzelnen ausführe, was der Experte alles an fiktiven oder sogenannten Buchwerten aufgezählt hat, die gehandelt worden sind, fasse ich seine wesentliche Schlussfolgerung zusammen: Es ist irreführend, von einer Fehlentwicklung des Kapitalismus zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um die logische und zwangsläufige Folgerung großer Kapitaleigner aus der Tatsache, dass Investitionen in die Realwirtschaft sich nicht mehr lohnen.
Es ist auch unsinnig, ständig - wie wir es erleben - von notwendigen Investitionen in die Infrastruktur zu reden. Niemand will in den Bau von Brücken, Straßen, elektrischen Leitungen oder die Wasserversorgung investieren, es lohnt sich nicht. Es lohnt sich deshalb nicht, weil derartige Projekte durch Ausschreibung an den billigsten Anbieter vergeben werden, und dieser ist deshalb preiswert, weil er kaum Gewinn macht oder es auf Kosten der Qualität tut. Staatsinvestitionen aber sind undenkbar, wenn die Staaten bereits hoch- und höchstverschuldet sind, wie etwa Japan, USA, Italien, Griechenland undsoweiter undsoweiter.
Andererseits aber war die Regulierung von Finanzgeschäften nicht zu vermeiden, da die um den Globus fließende Geldmenge von der Politik als bedrohlich erkannt wurde.

Ich komme zum zweiten Investmentexperten, den ich in der press review des BBC hörte. Jemand müsse ihm mal erklären, sagte er, weshalb eine lange Kolonne von Kämpfern des Islamischen Staates vom Irak aus durch hunderte Kilometer Wüste in Richtung der syrischen Stadt Palmyra ziehen konnte, ohne von der US Air Force bombardiert zu werden. Es seien hochmoderne Kampfwagen amerikanischer Produktion unterwegs gewesen, die bei der Eroberung von Mossul in die Hände des IS gefallen seien. Raketenwerfer, bazookas, viel allermodernstes Kampfgerät. Es zu zerstören, sei in der platten Wüste bei klarem Himmel leicht möglich gewesen. Warum also sei es nicht geschehen?
Die Frage wurde gestellt, aber nicht beantwortet.
Eine Antwort erfinde ich nun nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Denn manchmal, sagt der große Kriminalschriftsteller Raymond Chandler, ist ein Beweis nichts weiter als eine überwältigende Wahrscheinlichkeit. Also dann: Die Amerikaner haben die Kampfkolonne deshalb geschont, weil die Beseitigung des syrischen Präsidenten Assad durch den IS erwünscht war.

Der Mittlere Osten bis hinunter in den Kongo - also ganz Nordafrika - wäre eine hochinteressante neue Heimat für die um den Globus fließenden Dutzenden von Billionen Dollar. Palmyra wurde geopfert, weil die westlichen Politiker es nach jahrelanger Bombardierung der syrischen Infrastruktur noch immer nicht geschafft hatten, Präsident Assad durch einen genehmeren Machthaber, wie in der Ukraine durch einen Poroschenko oder Jazenjuk, zu ersetzen.
Wem gaben und geben sie die Schuld? Dem "Kriegsherrn Putin" (wie die BILD-Zeitung gestern erst, am 13.08. 2016, leitartikelte. Nur durch dessen zynische Geostrategie, als befehle er einer Großmacht, habe Assad sich halten können. Dabei stehe Putins Macht auf den tönernen Füßen einer maroden Wirtschaft, die nur gesunden könne, wenn Russland wieder demokratisch regiert und freier Kapitalverkehr garantiert werde.

Damit komme ich zu meiner vierten Informationsquelle, einem angesehenen Fachmann, er war Jahrzehnte im Bundesministerium für Entwicklungshilfe tätig. Er weist darauf hin, dass freier Kapitalverkehr nur diejenigen Ökonomien vorwärts gebracht hat, die bereits industrialisiert waren. Sogenannte Entwicklungsländer werden durch freie Kapitalflüsse zerstört. Nicht die Freiheit von Kapital sei erforderlich für die Entwicklung von emerging economies, sondern Rechtssicherheit bei möglichster Bekämpfung von Korruption, damit heimisches Kapital nicht auf ausländische Konten abfließt, sondern kluges Investment in einheimische Produktionen sowohl des Agrar- wie des industriellen Bereichs erfolgen kann. Dies solange, bis Wettbewerbsfähigkeit mit dem Ausland erreicht sei.
Als Erfolgsmodell nennt der Experte China, als Misserfolgsmodelle etliche afrikanische Staaten, deren einheimische Bauern, Handwerksbetriebe und Manufakturen durch Öffnung der Grenzen zerstört wurden.     

Die Folgerung liegt auf der Hand. Für die um den Globus fließenden heimatlosen Dollarbillionen muss Nordafrika als Investstitionsraum geöffnet werden. Gelingt es nicht, oder nicht schnell genug, muss Russland mit einer neuen Regierung versehen werden; nur dann können auch die chaotischen Verhältnisse in der Ukraine endlich bereinigt werden.

Eine neue Regierung oder "administration" wird sich zwischen November, wenn der US-Präsident gewählt wird, und dem Januar nächsten Jahres, wenn er sein Amt antritt, mit dem Problem befassen. Noch viele Millionen Menschen mehr als bisher schon könnten heimatlos werden, wenn für Dutzende von Billionen Dollar neue Heimat geschaffen wird.  

Donnerstag, 11. August 2016

Achtzehnter Brief

"Die erste Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht darin, Meinungen zu haben, sondern darin, die Wahrheit zu sagen, sich nicht zum Komplizen von Lügen oder Falschmeldungen zu machen."
Die bedeutende US-amerikanische Kollegin Susan Sontag sprach mir aus dem Herzen, als sie den Jerusalem-Preis entgegennahm, und es hat Mut erfordert - weshalb, ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Mittwoch, 11. Juli 2001, im Feuilleton nachzulesen. "Gegen die Stimmen der Vereinfachung ist die Literatur das Haus der Nuancen und Widersprüche." Und weiter: "Die Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, uns die Welt ungefähr so vor Augen zu führen, wie sie ist, nämlich erfüllt von vielen verschiedenen Ansprüchen, verschiedenen Rollen und Erfahrungen ... Was auch immer geschieht, stets geschieht gleichzeitig auch etwas anderes. Dieses 'andere' treibt mich um."

Wunderbar ermutigende Sätze! Zumal ich die Belehrung erhalte, so etwas wie Wahrheit gebe es gar nicht. Und damit komme ich auf die International New York Times vom Montag, 8. August 2016. "Putin gains leverage as army wins Syria battles", lautet einer der Aufmacher auf der Titelseite. "Russia gets upper hand in proxy war against U.S."

Was folgt, ist eine Darstellung des Kriegsverlaufs in Syrien.
Noch letzten Oktober sagte Präsident Obama, der Versuch Russlands und Irans, Präsident Assad zu unterstützen und die Bevölkerung zu befrieden, werde diese beiden Mächte in einen Sumpf ziehen, und sie würden lange darin steckenbleiben, und es werde nicht funktionieren.
Im Wesentlichen wird jetzt in der INYT ausgeführt: Seit Jahren hat die CIA in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten mehrerer arabischer Nationen Rebellen in Militärbasen Jordaniens und Quatars bewaffnet und trainiert. Die Kosten hat man von Saudi-Arabien ersetzt bekommen. Die mit modernsten US-Waffen ausgerüsteten Rebellen haben bedeutende Geländegewinne vor allem im Norden Syriens erzielt. Ein Problem der US-Regierung: die Rebellen kämpften an der Seite der Nusra-Front, die bis vor kurzem mit al-Quaida verbündet war. Keine der CIA-gestützten Gruppen ist westlichen Werten verpflichtet. Nur ein islamischer Staat ist für sie denkbar, ein laizistischer nicht.
Westlich orientierte Bevölkerungsgruppen müssen fliehen oder werden umgebracht. Beispiele Palmyra, Aleppo und weniger bekannt gewordene. Doch seit der Intervention Russlands im September 2015 sind die Rebellen zurückgedrängt worden. Ihre Führer und militärischen Experten befürchten, dass ihre Versorgungslinien zur Türkei unterbrochen sind.
Auch auf die Vorgeschichte wird eingegangen.

Der lange Leitartikel beweist, wie unvollständig wir von unseren Medien über diesen Krieg informiert, also eigentlich desinformiert werden. Ich kann nur empfehlen, den Artikel selbst zu lesen. Kann nicht viel kosten.  Außer etwas Mühe.






Donnerstag, 4. August 2016

Siebzehnter Brief

Eine moralische oder kritische Position nachträglich zu korrigieren, ja als verfehlt einzugestehen, überfordert die allermeisten Intellektuellen. Sie finden diese und jene und noch eine Entschuldigung für sich. Doch es gibt Ausnahmen. So eine habe ich heute früh in einem Fernsehinterview bewundernd zur Kenntnis nehmen dürfen. Die Sendung war ein Rückblick auf Huntingtons vor zwanzig Jahren erschienenes Buch "Clash of Civilizations". Ein Professor für ostasiatische Studien, Abt. Vergleichende Literatur, an der New York University, gestand offen ein, er habe damals zu den vehementesten Kritikern Huntingtons gehört und müsse zugeben: Huntington "was right, I was wrong". H. hatte recht, ich unrecht.
Kaum jemand von uns kann das. Wir verteidigen unseren geistigen Besitz so verbissen und wütend wie nur irgendein Kleinbürger seinen Geldbesitz. Ausnahmen sind rar und nur den geistig aktivsten Menschen überhaupt möglich. Sie ernten gewöhnlich die hämische bis beleidigende Reaktion einer geistig versifften Umwelt. "Mann über Bord" titelte ein Blatt, nachdem Thomas Mann aus seinen politischen Illusionen während des Ersten Weltkrieges die Schlussfolgerung gezogen hatte, die Zukunft der deutschen Jugend liege bei der patriotischen Versöhnlichkeit der sozialen Demokratie und nicht beim fanatischen Nationalismus der Fememörder.
Man unterstellte schnöden Opportunismus. Was gibt dir denn der politische (geistige, ideologische, religiöse usw.) Gegner dafür? Muss sich wohl lohnen, wie?
Doch es gibt Menschen, deren Lebensleistung für etwas ganz anderes steht als für Käuflichkeit. Wer das nicht wahrzunehmen vermag, dem fehlt wohl etwas an der inneren Ausstattung, die wir bei Menschen von Anstand vorausssetzen.

Nun konkret zu einigen Thesen Huntingtons, die Prof. Zhang Xudong heute anders sieht als damals.

Wenn große Staaten lange und ungeschützte Grenzen miteinander haben, wie Rußland und die Ukraine, so sei es wohl möglich, dass sie in Harmonie miteinander leben lernten - doch es wäre sehr ungewöhnlich. Schrieb Huntington.
Fast prophetisch, nicht?

In China und den westlichen Ländern habe man sich versprochen, dass durch Fortschritt die althergebrachten gesellschaftlichen Gegensätze allmählich zum Ausgleich führen würden. Nicht so im Mittleren Osten. Der Islam sei von seiner kulturellen Superiorität überzeugt und traumatisiert von seiner Inferiorität in der Welt.
 Prof. Xudong findet es furchteinflößend, dass viele Mosleme aus Nordafrika ihrer als überlegen empfundenen Kultur auch dann treu bleiben, wenn es den Verzicht auf materiellen Fortschritt mit sich bringt. Huntingtons Buch  habe die USA dringend aufgefordert, mit den islamischen Staaten zu leben und nicht gegen sie, die moslemische Identität zu respektieren und nicht durch eine westliche ersetzen zu wollen - gar gewaltsam.
Nun erlebt man, dass junge Mosleme nicht nur elendes Leben, auch hoffnungsvolle Karrieren opfern, um ihre Identität und die ihrer Glaubensbrüder zu behaupten.
Huntington habe die wirklichen Probleme benannt und nicht schöngeredet - als sie noch lösbar gewesen wären. Und jetzt, und inzwischen - ?

Dass der Islam den Indonesiern friedliches Zusammenleben ermöglicht, habe womöglich damit zu tun, dass der Westen in Indonesien lange nicht mehr militärisch interveniert hat. Meint der Professor.   

Siebzehnter Brief

Eine moralische oder kritische Position nachträglich zu korrigieren, ja als verfehlt einzugestehen, überfordert die allermeisten Intellektuellen. Sie finden diese und jene und noch eine Entschuldigung für sich. Doch es gibt Ausnahmen. So eine habe ich heute früh in einem Fernsehinterview bewundernd zur Kenntnis nehmen dürfen. Die Sendung war ein Rückblick auf Huntingtons vor zwanzig Jahren erschienenes Buch "Clash of Civilizations". Ein Professor für ostasiatische Studien, Abt. Vergleichende Literatur, an der New York University, gestand offen ein, er habe damals zu den vehementesten Kritikern Huntingtons gehört und müsse zugeben: Huntington "was right, I was wrong". H. hatte recht, ich unrecht.
Kaum jemand von uns kann das. Wir verteidigen unseren geistigen Besitz so verbissen und wütend wie nur irgendein Kleinbürger seinen Geldbesitz. Ausnahmen sind rar und nur den geistig aktivsten Menschen überhaupt möglich. Sie ernten gewöhnlich die hämische bis beleidigende Reaktion einer geistig versifften Umwelt. "Mann über Bord" titelte ein Blatt, nachdem Thomas Mann aus seinen politischen Illusionen während des Ersten Weltkrieges die Schlussfolgerung gezogen hatte, die Zukunft der deutschen Jugend liege bei der patriotischen Versöhnlichkeit der sozialen Demokratie und nicht beim fanatischen Nationalismus der Fememörder.
Man unterstellte schnöden Opportunismus. Was gibt dir denn der politische (geistige, ideologische, religiöse usw.) Gegner dafür? Muss sich wohl lohnen, wie?
Doch es gibt Menschen, deren Lebensleistung für etwas ganz anderes steht als für Käuflichkeit. Wer das nicht wahrzunehmen vermag, dem fehlt wohl etwas an der inneren Ausstattung, die wir bei Menschen von Anstand vorausssetzen.

Nun konkret zu einigen Thesen Huntingtons, die Prof. Zhang Xudong heute anders sieht als damals.

Wenn große Staaten lange und ungeschützte Grenzen miteinander haben, wie Rußland und die Ukraine, so sei es wohl möglich, dass sie in Harmonie miteinander leben lernten - doch es wäre sehr ungewöhnlich. Schrieb Huntington.
Fast prophetisch, nicht?

In China und den westlichen Ländern habe man sich versprochen, dass durch Fortschritt die althergebrachten gesellschaftlichen Gegensätze allmählich zum Ausgleich führen würden. Nicht so im Mittleren Osten. Der Islam sei von seiner kulturellen Superiorität überzeugt und traumatisiert von seiner Inferiorität in der Welt.
 Prof. Xudong findet es furchteinflößend, dass viele Mosleme aus Nordafrika ihrer als überlegen empfundenen Kultur auch dann treu bleiben, wenn es den Verzicht auf materiellen Fortschritt mit sich bringt. Huntingtons Buch  habe die USA dringend aufgefordert, mit den islamischen Staaten zu leben und nicht gegen sie, die moslemische Identität zu respektieren und nicht durch eine westliche ersetzen zu wollen - gar gewaltsam.
Nun erlebt man, dass junge Mosleme nicht nur elendes Leben, auch hoffnungsvolle Karrieren opfern, um ihre Identität und die ihrer Glaubensbrüder zu behaupten.
Huntington habe die wirklichen Probleme benannt und nicht schöngeredet - als sie noch lösbar gewesen wären. Und jetzt, und inzwischen - ?

Dass der Islam den Indonesiern friedliches Zusammenleben ermöglicht, habe womöglich damit zu tun, dass der Westen in Indonesien lange nicht mehr militärisch interveniert hat. Meint der Professor.