Schlag nach bei Konrad.
Alt-Bundeskanzler Adenauer hat
1967 vorausgesagt, was wir ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erleben.
Klingt unwahrscheinlich, kann jedoch nachgeprüft werden im dritten Band seiner Erinnerungen
(Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1967). Adenauer sieht voraus, dass wir
Europäer – wenn uns die politische Vereinigung misslingt
- „Untergebene“ auch der uns zunächst wohlwollenden USA bleiben werden.
Wir würden uns, da kein europäischer Staat allein für sich nach dem Zweiten
Weltkrieg noch Großmacht ist, an die Patronage der schützenden Supermacht
gewöhnen und allmählich erschlaffen. Das sei gefährlich, weil die USA auf die
Dauer überfordert wären und zweitens, weil sie nicht immer dieselben Interessen
vertreten wie Europa.
Adenauer sieht im Hintergrund der
Weltpolitik zwei nichtweiße Völker aufkommen, Rotchina und Indien. Wir dürften,
meint er, keine Zeit verlieren, um unsere europäischen Werte im Weltmaßstab
auch dann schützen und wirkungsvoll vertreten zu können, wenn einmal die USA von ihrer Rolle als Hüter dieser Werte zurücktreten. Als Gemeinsamkeit europäischer Völker sieht er: den Geist der Griechen und Römer
und das Christentum. Geistig sei Europa einig – bei aller
Unterschiedlichkeit der Traditionen.
Eine der größten drohenden
Gefahren sieht er im Mangel an Vorausschau der Entwicklung, in der „Kleinheit
des Denkens“.
Und noch einmal und immer wieder,
es dürfe keine Zeit verloren werden. Verpasse man die Gelegenheiten, so werde
dieses in seinem Wesen durchaus einige, politisch aber uneinige Europa zur
weltpolitischen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Dies werde auch
wirtschaftliche Folgen haben, warnt er.
Soweit meine Zusammenfassung, sie
kann die Lektüre der faszinierenden Eingangskapitel nicht ersetzen. Einige
Folgerungen drängen sich mir auf.
Von den zwei Supermächten, die
das Ende des Weltkrieges übrig gelassen hat, ist eine inzwischen
zusammengebrochen. Die Ursachen waren vor allem: starres Festhalten am globalen
Heils- und Hegemonialanspruch, finanzielle Überbeanspruchung der eigenen
Möglichkeiten, militärische Unterdrückung von
Alternativen – Eroberungskrieg.
Eben diese Fehlhandlungen beobachten
wir aktuell von der jetzt einzigen Supermacht.
Es ist, wie mir scheint, ein
Augenblick der Entscheidung für uns Europäer. Bleiben wir „Untergebene“? Oder
wagen wir Selbständigkeit und Eigenverantwortung? Können wir es überhaupt noch?
Oder sind wir in den Jahrzehnten der
Patronage „mit der Zeit der Erschlaffung verfallen“ (K.A. p. 18)?
Wir alle erleben, mehr oder
weniger bang, wie europäische Staats- und Ressortchefs hin und her reisen, wie
sie in Moskau, St. Petersburg, Peking und natürlich Washington um Rat und Hilfe
bitten und öffentlich erwägen, was möglich und was wohl vorteilhaft wäre. Für
uns. Für die Welt.
Dazu fällt mir das Erlebnis eines
Schülers von Jean-Paul Sartre ein. Der große Schriftsteller und Philosoph war,
aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassen, 1941 nach Paris zurückgekehrt. Er
scharte Studenten und Freunde um sich und erwog, wie die Resistance zu
organisieren wäre. Es gab bereits zwei Gruppen, die konservative De Gaulles und
die kommunistische. Sartre hatte an beiden mancherlei auszusetzen. Er kam zu der
Überzeugung, es müsse eine dritte – in sich einige – Widerstandsgruppe gebildet
werden. Praktische Versuche in dieser Richtung scheiterten jedoch. Man kam zu
keinem Schluß. Sartre nahm Zuflucht zu Veröffentlichungen.
Ein Jahr später führt die französische
Polizei in Paris die große Razzia gegen die jüdische Bevölkerung durch. An
diesem Tag entschließt sich einer aus Sartres Kreis zum entscheidenden Schritt.
Er will sich dem bewaffneten Kampf an der Seite der Kommunisten anschließen.
„Sie schrien nicht, die jüdischen
Kinder an diesem Morgen des Jahres 1942. Sie weinten nicht. Sie warteten nur,
umzingelt und bewacht. Sie waren da, das war alles. Sie suchten bei keinem
Vorbeigehenden Schutz. Und dennoch, ich erinnere mich, wie ich beim Laufen
dachte: Ich werde die Herstal-Pistole, die ich Ende letztem Jahres M. geschenkt
habe, zurückholen müssen. Ich hoffe, er hat sie gut geschmiert und gut versteckt…
Das war meine explizite und ‚praktische’ Antwort.“
(Annie Cohen-Solal, SARTRE,
Rowohlt 1988,p. 291).
Es gibt Augenblicke, da definieren wir, wer wir sind, wer wir sein wollen. Ausweichen gilt
nicht mehr.