Hass-Alarm!
Bilder von
Flüchtlingskindern greifen uns Deutschen besonders ans Herz. Viele inzwischen
alt gewordene Landsleute haben mit fünf Jahren genauso ausgesehen, dick
eingemummelt und mit einer Russenmütze auf dem Kopf. Sie waren auf der Flucht
aus dem winterkalten Osten – mit Mutter und Großmutter; ohne Vater und
Großvater, die waren gefallen, gefangen oder noch in Kämpfe verstrickt. Wir
erinnern uns. Wir möchten so gerne helfen – am besten nachhaltig. Die Politiker
sagen uns, wie es ginge. Man muss die Kriege beenden! Diese Erklärung ist
jedoch unvollständig. Wir argwöhnen,
dass die Verwüstung des Nahen Ostens nicht allein auf Bürgerkriege
zurückzuführen ist.
Etwas stimmt nicht
Krimi-Autor Michael
Molsner über Thriller, die niemand erleben will
Ein Gespenst geht um, es heißt Argwohn. Was erzählt man uns
nicht?
Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatten
alarmierende Berichte vorgelegen. Danach plante der ohnehin für Verbrechen
verrufene libysche Diktator Muammar Gaddafi eine Militäraktion gegen friedliche
Demonstranten. Ein geradezu klassischer Fall für die responsibility to protect schien vorzuliegen, die Ausweitung der Menschenrechte
zum Schutz der Zivilbevölkerung vor eigenen Regierungen. Frankreich und
Großbritannien intervenierten militärisch. Gaddafi wurde ermordet.
In einem Interview kommentierte die damalige Außenministerin
der USA, Hillary Clinton, die Ereignisse: „We came, we saw, he died.“
Ausdrücklich: We came=Wir! Washington muss zuvor sein
Einverständnis erklärt haben: We came.Vorgesehen
war lediglich die Errichtung einer Schutzzone gewesen.
Und nun? In der Ausgabe vom 08. Februar 2016 berichtet die
New York Times International, dass sich seit Monaten Spezialkommandos der USA,
Großbritanniens und Frankreichs in Libyen befinden. Einem Land mit zwei
Regierungen, die sich spinnefeind sind, und das terrorisiert wird von
bewaffneten Trupps.
Die Spezialkommandos trainieren und beraten libysche Milizen,
denen nach genauer Überprüfung ihrer Vergangenheit und Absichten zugetraut wird, den sich ständig
ausbreitenden Islamischen Staat zum Rückzug zu zwingen. Die Kommandos und
Milizen sollen IS-Stützpunkte als Ziele für Luftangriffe melden. Einen ausgeweiteten
Plan für Militärschläge aus der Luft hat das Pentagon dem amerikanischen Präsidenten
vorgeschlagen. Dieser zögere noch, meldet die Zeitung, denn das Außenministerium
warne vor unerwünschten Konsequenzen für
einen Plan der Vereinten Nationen. Dieser sieht vor, die zwei verfeindeten
libyschen Regierungen zu einem nationalen Regime zu vereinigen. Beide
Regierungen seien, ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung, gegen
ausländische Militärinterventionen.
Man hat damit ja auch üble Erfahrungen gemacht. Statt der
Einrichtung einer Schutzzone für die Zivilbevölkerung wurden alle staatlichen
Strukturen Libyens zerstört. Chaos und Elend sind die Folge. Dies ist der aktuelle
Stand fünf Jahre nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates, seine responsibility to protect wahrzunehmen.
Auch Russland und China hatten zugestimmt. Diesen zwei Veto-Mächten
wird nun vorgeworfen, dass sie für Syrien eine Intervention nach libyschem
Vorbild durch ihr Veto im Sicherheitsrat verhindert haben. Beide rechtfertigen
sich damit, dass Libyen kein ermutigendes Beispiel sei. Sie behaupten sogar,
unter dem Deckmantel der responsibility
to protect seien geopolitische Ambitionen der Interventionsmächte verborgen
gewesen. Kritiker wiederum entgegnen, China und Russland hätten auch ihrerseits
Interessen in Syrien schützen. China hat bedeutende Investitionen in Afrika getätigt
und möchte verhindern, dass weiterhin Waffen und Dschihadisten von Libyen aus
nach Süden eindringen. Die Russen schützen ihren Hafen an der syrischen
Mittelmeerküste.
Auslöser der Verwüstung des Nahen Ostens war nach
übereinstimmender Auffassung aller Kommentatoren George W. Bushs Invasion des
Irak. Sie gebar den IS. Vom Irak aus drangen die Dschihadisten nach Syrien vor.
Es war US-Präsident Obama persönlich, der den Sturz des syrischen Präsidenten ankündigte
mit den Worten: „Assad has lost any legitimacy to govern, he has to go“. Die USA trainierten, berieten, bewaffneten und
finanzierten in Syrien aufständische Milizen, von denen es mittlerweile
Hunderte geben soll. Fünf Jahre lang haben seither US-Flugzeuge syrische Regierungsstellungen
bombardiert. Der gewünschte Rücktritt des syrischen Präsidenten Bashar al Assad
konnte nicht erzwungen werden. Die Folgen für die Zivilbevölkerung waren
verheerend.
Auf Bitte der syrischen Regierung um Unterstützung
entschloss sich die russische Regierung, ihrem langjährigen Alliierten
beizustehen. Das ist einige Monate her. Die Konsequenz ist ein
Waffenstillstand, der vorerst hält. Kritiker wenden ein, dass die russischen
Luftangriffe auf Aleppo eine neue Fluchtwelle ausgelöst hätten. Doch aus der
gepeinigten Region flüchten seit fünf Jahren, nicht erst seit den russischen
Angriffen, verzweifelte Menschen zu uns nach Europa. Vor allem nach Deutschland
– die wir uns an den Umstürzen gar nicht beteiligen. Oder tun wir das?
Nicht alle unsere Medien melden, dass Russland nach
geltendem Völkerrecht legitimiert ist, die syrische Regierung zu unterstützen –
während die Westmächte kein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vorweisen
können, das es ihnen erlauben würde, unter Berufung auf die responsibility to protect Waffenhilfe
für bewaffnete Aufständische zu leisten. Die Intervention des Westens bewegt
sich in einer völkerrechtlichen
Grauzone.
Was ist beabsichtigt? Warum ein Umsturz nach dem anderen, da
doch jeder weiß: Wo zentralstaatliche Strukturen zerstört wurden, hat Chaos sich
ausgebreitet - ?
Verschwörungstheoretiker argwöhnen: Es muss gewichtige
Interessen geben, die hinter den Umsturzpolitikern stehen. Kollateralschäden
auch schrecklichster Art würden in Kauf genommen. In Kauf. Was wird gekauft, was handeln diese Interessenten für sich
aus oder erhoffen es sich auch nur?
Wir sind schon pleite
hörte man während der amerikanischen Vorwahlen einen Sprecher der Republikaner
sagen. Denn die USA haben hohe Schulden, Japan noch viel höhere. Ob das ein
Grund dafür ist, dass die Regierungen beider Staaten einen Militärpakt
geschlossen haben? Auch die Handelsbilanz Großbritanniens ist negativ. Ob die
massive Aufrüstung Großbritanniens damit zusammenhängt? In der New York Times
International wird David Cameron zitiert: Im Osten ein aggressives Russland, im
Süden der IS, dagegen müssen wir uns wappnen. Auch hohe Kosten müssten um der
Selbsterhaltung willen getragen werden. Vom Staat. Vom Steuerzahler. Der
reagiert argwöhnisch. Etwas stimmt nicht.
Russland hat nach der Implosion der Sowjetunion für seine
Verteidigung kaum Geld ausgegeben. Man erinnert sich an die höhnischen
Meldungen, die bis vor wenigen Jahren durch westliche Medien geisterten: Russlands Waffen hoffnungslos veraltet.
Atom-U-Boote rosten vor sich hin. Soldaten von Vorgesetzten misshandelt und
verzweifelt bis zur Desertion.
Ein Umsturz in der Ukraine erschien angesichts der
offenbaren Wehrlosigkeit der Russen leicht machbar. Janukowitsch muss weg, sagte meine ukrainische Ärztin vor zwei Jahren.
Jetzt berichtet sie von verzweifelten Hilferufen ihrer Freundinnen in Kiew, die
dringend Medikamente brauchen, die sie sich nicht leisten können. Wofür haben wir den Maidan gehabt, berichten
sie weinend am Telefon. Und die Ärztin resümiert: „Es ist schlimmer als vorher“.
Sie möge die Briefe schon gar nicht mehr lesen, es seien lauter Klagen und Bitten um Trost. „Man schämt sich,
dass es einem in Deutschland gutgeht“.
Der Umsturz in der Ukraine war nicht erst seit fünf, er war
bereits seit zehn Jahren geplant. Das war (und ist) in Foreign Affairs nachzulesen, der angesehensten Zeitschrift für
amerikanische Außenpolitik. In der Nummer vom September-Oktober 2014 war aufgelistet,
wieviele Dollarmilliarden amerikanische Stiftungen in den Umsturz investiert haben,
der zunächst scheiterte (die orangene Revolution) und dann gelang (Vertreibung
Janukowitschs).
Hier der Link zum Beitrag von John J. Mearsheimer:
https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2014-08-18/why-ukraine-crisis-west-s-fault
Im Osten des Landes hatte Russland Interessen, wie jetzt in
Syrien – aber was war Russland? Nur eine Regionalmacht, meinte Präsident Obama.
Offenkundig ist, dass nicht nur russische Interessen ignoriert wurden, auch
unsere westeuropäischen: The EU, you
know, fuck the EU, Jazenjuk is our man. Dieser Ministerpräsident, der sich seither
unfähig erweist, die Korruption ukrainischer Oligarchen zu bekämpfen.
Die deutsche Regierung beteiligt sich seit zwei Jahren aktiv
und nachdrücklich am bereits dritten Versuch in nur hundert Jahren, Russland
durch Hunger und Not gefügig zu machen. Begründet wird es mit psychologischen
Argumenten: Der Präsident der Russischen Föderation sei unberechenbar. Ist er
ein neuer Zar, besessen von Eroberungswahn? Ein zweiter Hitler – zu dem Hillary
Clinton ihn erklärte? Hat er verbrecherisch gehandelt, wie Angela Merkel ihm
ins Gesicht sagte?
Wir hören viel. Unbeantwortet aber bleibt die wichtigste
Frage: Weshalb die vielen Umsturzversuche? Geht es tatsächlich um die responsibility to protect, die Sicherung
von Menschenrechten? Was veranlasst westeuropäische Politiker, einem Regimewechsel
auch in Russland durch Wirtschaftssanktionen Vorschub zu leisten? Und selbst
gesetzt, er gelänge: Wären die Folgen nicht noch katastrophaler als jetzt die Experimente
im Nahen Osten? Würden nicht viele Millionen Flüchtlinge mehr ihre Verzweiflung
und Not zu uns hereintragen? Was hätten unsere Politiker, unsere Medien davon?
Was?!
Argwohn greift um sich. Hass vergiftet unsere Diskussionen. Niemand
traut mehr dem anderen. Jeder bezichtigt jeden der Schlechtigkeit. Das Kausativum
von Hass ist hetzen. Jeder hetzt
gegen jeden und fühlt sich dazu berechtigt, solange es Vertreter der
abgelehnten Richtung sind, gegen die gehetzt wird. Doch Hetze und Hass ändern
nichts. Wir werden noch mehr Flüchtlingskinder sehen, wie alt gewordene
Deutsche einmal eines gewesen sind. Dick eingemummelt in Schal und Mäntelchen,
mit einer Russenmütze auf dem Kopf.