Montag, 23. Juni 2025

Mimikry?

 

Mimikry - ? So tun, als ob?


Die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky sind die proletarische Mimikry des zerfallenen Bürgertums... dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht. Er steht links nicht von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt. Denn er hat ja von vornherein nichts anderes im Auge als in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen. Die Verwandlung des politischen Kampfes aus einem Zwang zur Entscheidung in einen Gegenstand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel – das ist der letzte Schlager dieser Literatur.

Walter Benjamin, 1931


Das ist das Zentrum des Menschen Kurt Tucholsky. Er ist ein großer Liebender – von Ideen. Die Idee Frau, die Idee Sozialismus, die Idee Revolution: davon kann er singen und sprechen und schreiben wie kaum ein anderer – zärtlich, metallen, kämpferisch. Droht diese Idee – eine dieser Ideen – zur Realität zu werden, versagt er sich; flüchtet.

Fritz J. Raddatz, 1989


Das Problem spielt aktuell wieder eine ganz große Rolle. Ideale weltweit zu verbreiten, beansprucht unsere Anerkennung. Doch die Verwirklichung von Idealen ist lediglich in einem Teil der Welt möglich, ist abhängig von Bedingungen an einem Ort durch ein bestimmtes Zeitfenster. Global geplant, ist die Verwirklichung nur partikular möglich. Daher nennt unser „Tucho“ zeitgenössische Sozialdemokraten Verräter des Ideals, ohne dass er sich den Problemen der „Implementierung“ sozialistischer Ideale praktisch ausgesetzt hätte. Er hatte sich nach Frankreich abgesetzt, als in Deutschland erbitterte Bürgerkriege um die Durchsetzung der Demokratie tobten. Wie sich bald zeigte, liebte er auch nicht Frankreich, sondern die Idee Frankreich; um Raddatz zu ergänzen.

Meine Generation hat Tucholskys Gegner als die eigenen erlebt und bekämpft, das machte uns zu seinen begeisterten „Fans“; und wir sind es geblieben. Dass die 1960 herausgegebenen gesammelten Werke nicht den wirklichen Tucho boten, sondern eine Idealgestalt schufen, die weder dem Menschen noch irgendeiner lebbaren politischen Möglichkeit entsprach – wussten wir nicht. Jetzt liegt das unzensierte Gesamtwerk vor, dem die obenstehenden Zitate entnommen sind. Jetzt sind wir schlauer. Aber kommen zu spät, fürchte ich, um noch gehört zu werden.

Dir kam ein schön und neu gesicht/ Doch zeit ward alt, heut lebt kein mann/ ob er je kommt das weisst du nicht/Der dies gesicht noch sehen kann“.

Stefan George

Ob wir begreifen konnten, was Claus von Stauffenberg meinte, als er beim Feuerbefehl des Erschießungskommandos ausrief: „Es lebe das heilige Deutschland!“? Ich glaube, er meinte die Idee Deutschland. Zweimal ist versucht worden, sie zu verwirklichen. Übel misslungen.

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