Montag, 25. Juli 2022
Erfahrungswerte
Das Folgende habe ich in Walter Benjamins Essay „Der Erzähler“ gefunden, bezogen auf den ersten Krieg, den wir Deutschen gegen Russland geführt haben. Dass der zweite Krieg gegen Russland bevorstand, ahnten diejenigen, deren Erfahrungen aus dem ersten sich als nicht mitteilbar erwiesen. Und so war es leider.
Benjamin schreibt:
„Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können. Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird. Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.
Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, daß sie einen neuen Tiefstand erreicht hat, daß nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher - ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“
Der Schluss des Essays lautet: „Der Erzähler ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet.“
Das lassen wir Autoren erzählter Erfahrungen uns gewiss gerne sagen. Auch wenn wir eingestehen müssen, dass unsere Erfahrungen im Kurse gefallen sind und weiter ins Bodenlose fallen. Als Napoleon Bonaparte die Eroberung Russlands ins Werk setzte, behauptete er nicht gänzlich ohne Grund, er bringe die Menschenrechte der Französischen Revolution. Ludendorff hatte die Versorgung der Deutschen im Sinn, als er via Ukraine ganz Russland anvisierte. Trotz der wenig ermutigenden Erfahrungen mit Ludendorff folgte das deutsche Volk noch einmal einer Führung, die Russland zwecks umfassender Ausbeutung zu erobern versprach. Den politischen Ressortchef der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, hörte ich am 24. Juli 2022 im Presseclub der ARD sagen, er wünsche Russland jede Größe, doch zu unseren Bedingungen. Die hatten wir bekommen, als Gorbatschow den Versprechungen glaubte, die NATO werde keinen „Inch“ nach Osten vorrücken, wenn er die Vereinigung der deutschen Staaten akzeptiere. Jeder weiss heute, dass Gorbatschow damit den Sieg im Zweiten Weltkrieg verspielte, und dass Jelzin Russland in tiefstes Elend gestoßen hat. Im Stadium dieses erbärmlichen Zustandes hat Wladimir Putin Russlands Wiederaufstieg bewerkstelligt. Vernichtungswille klang ihm dafür, dass er dies geschafft hat, aus dem Presseclub entgegen. Alle Diskutanten und auch die Moderatorin sprachen die inständige Hoffnung aus, Putin möge scheitern und die russische Wirtschaft durch „unsere“ Sanktionen endlich wieder unter unsere Kontrolle gebracht werden .
„Unsere“ Kontrolle wäre das allerdings keineswegs, wenn ich mich selbst zu „uns“ zähle. Ich spreche erfahrungsbasiert – doch freilich, Erfahrungen sind ins Bodenlose gefallen. Und ich, Leute wie ich, dieses andere „Wir“ als das von Stefan Kornelius gemeinte, fallen – zusammen mit unseren Erfahrungen – heraus aus unserem Land. Wohin fallen wir? Wo schlagen wir auf?
Gesucht ist ein Ort, wo Erfahrungen im Kurs steigen.
Dienstag, 19. Juli 2022
Worldwise
Recht so, Mr. Scholz?
„Dies ist eine historische Stunde“, erklärt der Direktor einer staatlichen Gesamtschule in dem unvergesslichen Film Clockwise, Recht so, Mr. Simpson von und mit John Cleese ein ums andere Mal. Es ist sein Mantra, eine Formel, die er einübt, um die Konferenz der Headmaster in einem drei Eisenbahnstunden entfernten Ort ja nicht zu verpassen – er selbst ist als Vorsitzender ausersehen, und es ist das erste Mal, eben eine historische Stunde, dass er, ausgerechnet er als der Direktor einer Schule für unbemittelte Normalbürger, zu lauter Headmastern von Eliteschulen sprechen soll. „Sag den hochnäsigen Schnöseln, dass wir sie demnächst an ihren Krawatten aufhängen!“, gibt einer aus seinem Kollegium ihm auf die Reise mit. „Recht so“, antwortet er, ist jedoch abwesend, er übt die Rede ein, die er vor all den hochnäsigen Schnöseln halten will. „Ich, ein Neuling…“, undsoweiter.
Vor lauter Entzücken, nun einmal ganz ganz oben mit dabei zu sein, vergisst er alle realen Umstände, verpasst seinen Zug und das Auto seiner Frau, und eine Kette von Umständen, die er nicht rechtzeitig erkennt, führt zu einer Reihe unbegreiflicher Katastrophen und einem schmählichen Ende. Aufgebrochen war er wie aus dem Ei gepellt, ankommen wird er in Lumpen und wird vor einem zwischen Spott, Mitleid und Unverständnis schwankenden Publikum den Choral singen, er allein und ohne Pianobegleitung, den er seinen Schülern zum Abschied von der gewöhnlichen Gesamtschule und zur Feier seines Aufbruchs in die lichten Höhen der historischen Stunde geboten hatte.
Ich musste an unseren Bundeskanzler denken. Er spricht ständig von der historischen Stunde, der Wendezeit, als könne das Einüben dieser Formeln und die ständige Beschwörung der Wirklichkeit diese gefügig machen. Wie wird es enden, für ihn, unser Land, unser Europa, für uns?
John Bunyan
Verse 1
He who would valiant be
‘Gainst all disaster
Let him in constancy
Follow the Master
There’s no discouragement
Shall make him once relent
His first avowed intent
To be a pilgrim.
Verse 2
Who so beset him round
With dismal stories,
Do but themselves confound —
His strength the more is.
No foes shall stay his might,
Though he with giants fight:
He will make good his right
To be a pilgrim.
Verse 3
Since, Lord, Thou doest defend
Us with Thy Spirit,
We know we at the end
Shall life inherit.
Then fancies flee away!
I’ll fear not what men say,
I’ll labor night and day
To be a pilgrim.
Wer überzeugt ist, dass die Weltpolitik in dieser historischen Stunde ein Kampf der Guten gegen die Bösen ist, wer also unserem Kanzler folgt, mag sich auf Schlimmes vorbereiten und gegen Übles wappnen. Genau dazu werden wir ja auch ständig ermahnt!
Abonnieren
Posts (Atom)