In einer Ad-hoc-Analyse schreibt das Forum Demokratische Linke in der SPD heute (25.06.2016) zum Brexit: "Der Sieg der Brexit-BefürworterInnen ist auch ein Sieg von Ignoranz, Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und MigrantInnen und romantisierendem Nationalismus."
Diese Analyse halte ich für irreführend, also falsch und gefährlich. Es ist eine Selbsttäuschung!
Ganz anders (heute früh auf BBC gesendet) Ken Livingstone, Londoner OB von 2000-2008: Die Arbeiter haben gesehen, dass seit Jahrzehnten ihre Jobs verloren gehen, ihre Löhne sinken, die Preise vor allem für Häuser ins Ungemessene steigen, so dass ihre Kinder kein Haus kaufen oder mieten können und keinen Job finden - während die Banken Unsummen abgreifen.
Der Wahlkampf sei von beiden Seiten so schmutzig geführt worden, dass man den Politikern und Medien kein Wort (not a word) mehr geglaubt habe. Die Brexiter hätten nach Bauchgefühl (from guts) gestimmt.
Für den Brexit, weil sie sich von Brüssel und Berlin dominiert und gedemütigt fühlten.
Die Brüsseler Bürokratie gebärde sich, sagte Livingstone, als wäre sie unfehlbar, er verglich sie mit der Bürokratie unter Stalin!
Es sei nicht denkbar, dass die enteigneten blue collars und stolzen Engländer sich einer unkontrollierbaren Bürokratie unterwerfen.
Soweit Livingstone, der als Londoner Ex-"mayor" ja wohl über Erfahrung und Sachverstand verfügt.
Den Schlüssel zum Verständnis des Brexit hat also unfreiwillig Bundespräsident Joachim Gauck geliefert. Er soll eine Woche vor dem Referendum, am 16.04. also, in einem Interview bei ARD geäußert haben: Die Bevölkerungen seien derzeit das Problem. Nicht die Eliten.
Nun besteht aber politische Führungskunst darin, im Dialog mit den Wählern deren Interessen zu vertreten, mindestens zu berücksichtigen, und sie mit denen des Gemeinwesens abzugleichen. Das ist manchmal schwierig, und oft erfordert es Geduld. Doch die Beschlüsse der Eliten mit barscher Unduldsamkeit als alternativlos zu deklarieren, bedeutet nichts anderes als die Abschaffung von Wahlmöglichkeiten.
Die Wähler sollen nur noch zustimmen dürfen - und wirklich, so war es zum Beispiel in der Honecker-DDR.
Der Brexit ist deshalb keine Antwort auf die Flüchtlingsfrage, sondern ein Aufstand gegen die Entmächtigung durch Brüssel - und durch Berlin. Hat England dafür den Krieg gewonnen, dass es sich jetzt Deutschlands Diktat - getarnt als EU-Beschlussfassung - unterwerfen soll? Niemals, sagten 52 % der Engländer. Enough is enough.
Auch mir reicht es, dass ich das Zusammenspiel zwischen meinen Kollegen von den Medien und der Politik als alternativlos akzeptieren soll. "They misrepresent facts to suit them to a political agenda", hörte ich einen Wirtschaftsmann im Fernsehen heute früh sagen und fand: Ja, so ist es.
Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen. Unsere Demokratie ist zu teuer bezahlt, als dass wir sie uns widerstandslos wegnehmen lassen dürften. War es nicht Paulus, der eine abgefallene, in heidnische Laster zurückgefallene Gemeinde ermahnt hat: "Lebt nicht wie diejenigen, die ohne Hoffnung sind. Das kostbarste Blut ist für euch geflossen." Für uns alle war es das Blut Henning von Tresckows und Julius Lebers, das Blut von Anne Frank und Etty Hillesum.
"Empört euch!", empfahl Stephan Hessel uns in seiner letzten Botschaft.
Und redet darüber.
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