Der Zufall hat mir ein
Taschenbüchlein des Fischer Verlags in die Hand gespielt, das ich als
Bereicherung empfinde. Verschiedene Autoren äußern sich „Zum Thema Goethe“, so
der Titel des schmalen Bändchens. Eine Ansprache Sigmund Freuds im Frankfurter
Goethe-Haus ist abgedruckt. Der berühmte Seelenerforscher war der dritte Träger
des Goethe-Preises, der 1927 gestiftet worden war. Wegen seiner Krankheit war
Freud außerstande, die Rede selbst zu halten; statt seiner las Anna Freud den
Text am 28. August 1930 vor, dem Geburtstag Goethes.
Diese Details hätte ich kaum
beachtet, wäre mir nicht aufgefallen, dass Freud ein selten gespieltes Stück als Goethes vielleicht erhabenste
Dichtung bezeichnet, „Iphigenie auf Tauris“. Das Stück gilt als realitätsfern,
Bildungsliteratur, Abitursthema – kurz, als langweilig. In der Biografie von
Richard Friedenthal wird betont, dass Schiller bestimmte Szenen für so unwahrscheinlich
hielt, daß er dem Stück Bühnenwirksamkeit absprach. Es geschehe nichts, man
rede nur miteinander.
Ist das Erhabene langweilig? Ich
wollte es wissen und habe das vor vielen Jahren erstmals gelesene Drama noch
einmal vorgenommen. Damals hat es mich wenig berührt, obgleich die Schönheit
einiger Verse mir auffiel. Gemerkt habe ich mir den Anfang, wo Iphigenie am
Strand steht, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“.
Die neuerliche Lektüre aber hat mich
tief bewegt und sogar, wie ich gestehe, zu Tränen gerührt. Es liegt nicht an
der äußeren Handlung, deren Statik Schiller bemängelt hat. Durch Freuds Hinweis
aufmerksam geworden, achtete ich auf das innerpsychische Geschehen der Figuren
und besonders der Hauptfigur.
Iphigenie stammt aus einem
Geschlecht, dessen Mitglieder von furchtbaren Morden belastet sind. Eine Göttin
entführt sie nach Tauris, wo man anlandende Fremde einer Göttin opfert, deren
Priesterin Iphigenie wird. Ihr widersteht der barbarische Brauch. Im
Einvernehmen mit dem Herrscher, der sie heiraten möchte, kann sie Fremde retten
– auch zwei griechische Landsleute, was umso bedeutsamer ist, als einer von
ihnen ihr Bruder Orest ist. Er wird wegen Muttermordes von Furien gehetzt und
glaubt, eine Weissagung missdeutend, der Fluch würde von ihm genommen, wenn er
das Bild der Göttin raube. Zugleich mit diesem Bild will er die Schwester
entführen.
Iphigenie geht darauf ein. Doch
weil der Herrscher ihr zum zweiten Vater geworden ist, bringt sie den Verrat
nicht über sich und gesteht ihm den Plan. Der Herrscher gibt sie frei.
Kritiker halten das für eine
Beschönigung. Gewalttätigkeit sei nicht durch Aufrichtigkeit zu besiegen.
Freud aber denkt nicht an
Politik. Er schreibt: „In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der
‚Iphigenie’, zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, einer
Befreiung der leidenden Seele von dem Druck der Schuld, und er läßt diese
Katharsis sich vollziehen durch einen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch.“
Dass eine Ent-Deckung verdrängter
Schuld befreiend wirkt und als heilsam empfunden wird, hat Freud bei der
Behandlung seiner Patienten erfahren. Goethe wird es schreibend erfahren und
empfunden haben.
Und wir Nachkriegs-Deutschen,
denke ich, wissen es auch.
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