Samstag, 25. Januar 2025
Zurück in die Gotik
Heute früh hörte ich im Radio eine frische Frauenstimme berichten, sie habe aus einem dieser öffentlichen Gratisangebote ein Exemplar des Romans "Moby Dick" mitgenommen, weil sie das Buch noch nicht kannte, aber wusste, dass es sehr berühmt ist. Gleich der Anfang habe sie „gecatched“. Ich horchte auf. Weshalb hat der Anfang sie gefangen? Weil sie auch schon, wie Ismael, das Gefühl hatte, dass in ihrem Leben nichts mehr stimmt und nichts mehr geht wie geplant. Ismael heuert dann als Matrose an, die junge Frau hingegen...
Hab nicht mehr mitbekommen, was sie dann tut. Im Anschluss habe ich überlegt, was mich aktuell abgelenkt hat von Zeitläuften, die ich nicht mehr ertrage. Bei einem Walfänger, wie Ismael, heuere ich nicht an, und als Panzerfahrer in die Ukraine melde ich mich auch nicht - das ist etwas für die Tapferen der vorletzten Generation, von mir aus gezählt.
Was mich derzeit wieder einmal einfängt, ist ein Buch von Thomas Mann, das ich in viel zu jungen Jahren gelesen habe, als dass ich es damals verstanden hätte. Es ist das geschmähteste Buch des Kollegen. Er vermutet im Jahr 1917, dass die modernen Fortschrittler seiner Zeit ein klar formulierbares Ziel haben - das sie selbst nie eingestehen würden. Sie seien zutiefst bewegt von der Sehnsucht, weltweit ein neues Mittelalter heraufzuführen, eine Gotik diesseits von Renaissance, Reformation, Aufklärung. Man war geborgen im Haus des Glaubens. Niemand brauchte zu zweifeln, was wahr und richtig oder was "fake" und verboten sei. Man wusste und befolgte es. Das Risiko jeder Beurteilung fiel weg.
Ich dachte bei mir: Das ist es, was derzeit anscheinend alle wollen, die bei uns für Entscheidungen zuständig waren, sind, sein werden. Menschenrechte sind nicht das Problem. Verlangt ist, dass sie jederzeit überall so ausgelegt werden, wie wir es für angemessen (und nützlich) halten. Wer daran zweifelt, landet wie im Mittelalter auf einem Holzstoß; ist zwar als Metapher zu verstehen, doch auch heutigentages und unter uns Wahlberechtigten kann Zweifel an der Rechtgläubigkeit zum (bürgerlichen) Tod führen.
Mediale Hinrichtungen sind an der Tagesordnung, gelten als Ausweis der Seriosität. Öffentliche Zweifel sind nicht mehr zulässig. Wir dürfen über bestimmte Themen nicht anders sprechen, als uns durch Medien und Politik erlaubt ist. Versucht es und tragt die Folgen, wenn ihr euch sicher genug fühlt.
Ich selbst bin zu alt, um noch Fahnen zu hissen.
Michael Molsner
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