Donnerstag, 20. Juli 2023
VERBRECHEN, VERGESSEN
Sigmund Freuds „Kulturtheoretische Schriften“ habe ich in meiner Jugend gelesen, und die liegt ein Weilchen zurück. Unklar erinnere ich mich, dass er von einer Urhorde ausgeht. Diese sei strengstens von einer Vaterfigur regiert worden, die zu verhindern hatte, dass der Stamm durch Inzest sich selbst vernichtete. Eine Art Urverbrechen hätte darin bestanden, dass der Sohn den Vater ermordete, um sich der Mutter zu vermählen.
Für Freud geht es um „einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, um Animismus, Magie, die Allmacht der Gedanken sowie die infantile Wiederkehr des Totemismus“. Kurz, dem berühmten Seelenarzt war es um Möglichkeiten von heilender Behandlung zu tun.
Nun versteige ich mich nicht zu der Behauptung, unsere Ministerin des Äußeren leide an einer kranken Seele. Immerhin finde ich es bemerkenswert, wenn ich im Netz folgende Nachricht der Frankfurter Rundschau entdecke: „Baerbock: Müssen Putin für 'Urverbrechen' zur Verantwortung ziehen und Völkerrecht reformieren“. Bei einem Festakt zum 25. Jahrestag des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gestand sie immerhin ein, dass es einen derartigen Strafrechtsparagraphen nicht gibt, meinte aber: „Wir haben die Verantwortung, unsere Kräfte zu bündeln und Wege zu finden, um die Lücke... zu schließen.“ Ihre Forderung bekräftigte sie in einer Rede im UN-Sicherheitsrat in New York, wie dpa berichtet.
Inzwischen scheint die erstaunliche Nachricht in der Öffentlichkeit keine Beachtung mehr zu finden. Irgendwo las ich, man halte das Vorhaben für unrealistisch, es sei nicht zu verwirklichen.
Das beruhigt mich, wenn ich an das 34. Kapitel des Romans „Doktor Faustus“ von Thomas Mann denke. Eine hochentwickelte Rechtsgemeinschaft sollte es nicht riskieren, Kultbegriffe aus frühen Rechtsgemeinschaften zu übernehmen, warnt der „Jahrhundertschriftsteller“. Die Folgen seien unkalkulierbar und könnten zur Selbstzerstörung führen. Just diese ist das Thema des Romans, der in der Emigration begonnen wurde, weil sein Autor sich vor der Selbstzerstörung seines deutschen Vaterlandes durch wildgewordene Horden des Nationalsozialismus retten musste.
Nach Max Weber gilt für Politiker eine Moral der Verantwortung, sie müssen die Konsequenzen ihrer Handlungen bedenken. Moralische Selbstgewissheit, wie Individuen sie sich leisten dürfen, weil sie nur für ihr eigenes Leben einstehen, ist Politikern nicht einzuräumen. Die weltberühmte Rede, in der Max Weber diese Unterscheidung fixiert, ist vor hundert Jahren in München gehalten worden. Thomas Mann hat seinen Roman vor achtzig Jahren begonnen, am 23. Mai 1943.
Sigmund Freuds Aufsatz „Totem und Tabu“ ist vor 110 Jahren veröffentlicht worden.
In die Moderne übertragen, ist ein Zusammenhang mit Präsident Putin nicht gegeben. Er bekennt sich als Christ und verantwortet sich vor Gott, den er als Vater anerkennt. Das 'Urverbrechen' des Vatermordes wäre also unseren „Wokisten“ vorzuwerfen, den angeblich Aufgewachten. Sie haben den einen Strang der philosophischen Aufklärung übernommen, der Gottes Tod und auch: Gottes Ermordung, Gottes Abschaffung und Loslösung von unserem Dasein feststellt und fordert.
Mit der Abschaffung des Vaters geht das Vaterland verloren, wie es für Thomas Mann und soviele andere verloren ging. Vor den Folgen warnt Hannah Arendt in ihrem Buch über die Ursprünge totaler Herrschaft. Sie zitiert Georges Clemenceau mit den Worten, ohne patrie kein Patriotismus, und ohne Vaterland keine „justice“, keine Gerechtigkeit für jeglichen Bürger, gleich welcher Rasse oder Religionszugehörigkeit. Und mithin keine Demokratie. Das ist der Rückschritt hinter die Erklärung der Menschenrechte. Es ist die Konterrevolution!
Wir erleben gerade, was das bedeutet. Ungleichheit vor dem Gesetz. Oder wagt es jemand, sich zu einer der missliebigen Parteien zu bekennen? Keinerlei parlamentarische Zusammenarbeit mit gewählten Abgeordneten. Die Tötung von gewählten Präsidenten darf geplant werden, wenn es ein Präsident der Russischen Föderation ist. Wahlen dürfen ignoriert werden, wenn das Resultat unerwünscht ausfällt. Weltherrschaftswahn wird als selbstverständliche Bürgerpflicht ausgelobt.
Clemenceau kämpfte für das Recht eines jeden Franzosen, sich auf den Schutz geltender Gesetze zu berufen. Verweigere man diesen Schutz dem einen Juden Dreyfus, der wegen angeblichen Landesverrats vor Gericht stand, so verweigere man ihn allen. Um Clemenceau geht es Clemenceau. Um uns.
Doch sind wir nicht schon Vaterlandslose? Die Fußballmannschaft der Herren, die in Quatar um einen Titel in der Weltmeisterschaft kickte und verlor, hat nicht für Deutschland gespielt. Ausdrücklich war es ihr um die weltweite Verbreitung ihrer Gesinnung zu tun. Und seither demonstriert diese Fußballmannschaft in jedem Spiel, dass sie nicht für uns aufläuft, ihre Mitbürger und Landsleute. Jeder für sich und Gott gegen alle?
Ja, ich sehe einen religiösen Bezug! „Oh, island in the sun/Willed to me by my father's hand...“, sang Harry Belafonte, der für Menschenrechte und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz demonstriert hat.
Willed to ist, im Gegensatz zum Urverbrechen, ein geltender Rechtsbegriff. Gemeint ist eine feierliche Übereignung. Was für ein Vater ist wohl gemeint, wenn es um die Übereignung einer ganzen karibischen Insel geht?
Für unsere Machthabenden aber gibt es den Vater nicht, an den zu denken wohl möglich wäre. Er ist mehr als tot: vergessen.
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