Dienstag, 29. März 2022
Klein sein, das ist schön
„Klein sein, das ist schön, groß sein noch viel schöner!“
Einen Zufall will ich es nicht nennen, aber was ist es dann? Ein fast dreißig Jahre alter Essay des Soziologieprofessors Heinz Bude schmorte unbeachtet in meinem Archiv, bis er mir vor Tagen aus einem Buch über Menschenrechte vor die Füße fiel. Ich habe den in der Frankfurter Allgemeinen vom 29. Januar 1994 abgedruckten Artikel auf meinen Schreibtisch gelegt und nicht vorgehabt, ihn zu lesen. Schreddern wollte ich ihn – und sah dann vorsichtshalber noch einmal hin. „Seit der Einigung können die Deutschen nicht mehr hoffen, dass andere die Maßstäbe für ihre Politik liefern“, steht unter einer Ablichtung des Reichstags in Berlin. Ich las noch einmal, was ich gewiss schon 1994 gelesen hatte; sonst hätte ich den Essay nicht archiviert.
Dem Soziologen geht es um den Unterschied zwischen Gesellschaft und Nation. Die Bundesrepublik sei durch die deutsche Einigung plötzlich von einer „Gesellschaft“ zu einer „Nation“ geworden. Gesellschaften gibt es viele, sowohl innerstaatlich wie außerhalb. Ich kann und ich will mich als Weltbürger fühlen. Das ist Sache meiner rücknehmbaren Wahl. Deutscher hingegen bin ich durch Geburt und bleibe es im Normalfall. Das hat Vorteile. „Pragmatismus“ (Bude) sollte uns nach einer schrecklichen Leidensgeschichte darüber belehrt haben, dass nur die Nation als politische Form sowohl mich wie den Fremden schützt. „Definiert durch das Recht und garantiert durch das Machtmonopol des Staates, stellen ‚Nationen’ einen politischen Raum dar, wo die Einheit von ethnischen, regionalen und sozialen Differenzen sich herstellen kann. Noch hat die Menschheit keine politische Form, und deshalb kann sie auch die Einhaltung von Menschenrechten nicht verbürgen. Freiheit und Gleichheit in Loslösung von letztlich beliebigen Gruppemerkmalen ist für die Bürger nur im Rahmen der ‚Nation’ gewährleistet.“
Migranten wissen das aus Erfahrung. Als Mitglieder einer Weltgesellschaft, verbunden im Internet, fordern sie Gleichheit – doch es gibt keine Weltnation, von der sie den Schutz bekämen, den sie für sich einfordern. Deshalb kommen sie zu uns und suchen Zugang zu ‚Nationen’, die ihren Bürgern nicht nur Pflichten auferlegen, sondern auch Rechte einräumen. Sie wollen nach Europa und innerhalb Europas nach Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien. Hingegen Ungarn, falls es sie akzeptierte, kann sie nicht mit der sehnlich erwünschten „Gleichheit“ der Lebensqualität versorgen.
Das ist so. Wir wissen es alle. Dennoch verlangt die EU von Staaten wie Ungarn, Migranten aufzunehmen, die dort nur durchreisen – zu uns. Die bestimmenden Kräfte der Europäischen Union halten an der Phantasie fest, wir lebten in einer Weltnation. Warum bezeichnen sich dann aber die USA als Ausnahme, als die „exceptional nation“? Was hat Frauen, die ein Kind erwarteten, veranlassen können, in den USA niederzukommen und dem Kind so die amerikanische Staatsbürgerschaft zu sichern?
Die Erklärung, dass es selbstbestimmte Nationen innerhalb dieser Weltnation nicht geben soll, klingt befremdlich. Insbesondere keine mit entwicklungsbedingter, eigener Auslegung der UN-Charta. Ihnen setzt die Weltnation durch ihre Führungsmächte mittels harten Zwangs enge Grenzen. Hunger wird die Trotzigen brechen, Bomben sprechen das klarste Wort. An ihren Grenzen fahren wir soviel Militär auf, dass sie ihre Ressourcen in Rüstung investieren müssen – das wird ihre Bevölkerungen zu der Einsicht bringen, dass wir sie mit vollem Recht unserer Weltnation eingliedern wollen.
Wir müssen das alles tun, weil wir als einzelne Nationen nicht durchsetzungsfähig wären. Die Weltnation ist alternativlos! Eine Weltgesellschaft schaffen! Klingt groß. Allzu groß? Bude: „Vielleicht mag angesichts des Schwankens zwischen grandioser Aufblähung der Leidenschaften und ängstlichem Rückzug auf die Interessen jemand Erbarmen haben mit den Deutschen: ‚Moschele, Moschele, mach dich nicht so klein, so groß bist du gar nicht.’“
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