Dienstag, 29. März 2022
Klein sein, das ist schön
„Klein sein, das ist schön, groß sein noch viel schöner!“
Einen Zufall will ich es nicht nennen, aber was ist es dann? Ein fast dreißig Jahre alter Essay des Soziologieprofessors Heinz Bude schmorte unbeachtet in meinem Archiv, bis er mir vor Tagen aus einem Buch über Menschenrechte vor die Füße fiel. Ich habe den in der Frankfurter Allgemeinen vom 29. Januar 1994 abgedruckten Artikel auf meinen Schreibtisch gelegt und nicht vorgehabt, ihn zu lesen. Schreddern wollte ich ihn – und sah dann vorsichtshalber noch einmal hin. „Seit der Einigung können die Deutschen nicht mehr hoffen, dass andere die Maßstäbe für ihre Politik liefern“, steht unter einer Ablichtung des Reichstags in Berlin. Ich las noch einmal, was ich gewiss schon 1994 gelesen hatte; sonst hätte ich den Essay nicht archiviert.
Dem Soziologen geht es um den Unterschied zwischen Gesellschaft und Nation. Die Bundesrepublik sei durch die deutsche Einigung plötzlich von einer „Gesellschaft“ zu einer „Nation“ geworden. Gesellschaften gibt es viele, sowohl innerstaatlich wie außerhalb. Ich kann und ich will mich als Weltbürger fühlen. Das ist Sache meiner rücknehmbaren Wahl. Deutscher hingegen bin ich durch Geburt und bleibe es im Normalfall. Das hat Vorteile. „Pragmatismus“ (Bude) sollte uns nach einer schrecklichen Leidensgeschichte darüber belehrt haben, dass nur die Nation als politische Form sowohl mich wie den Fremden schützt. „Definiert durch das Recht und garantiert durch das Machtmonopol des Staates, stellen ‚Nationen’ einen politischen Raum dar, wo die Einheit von ethnischen, regionalen und sozialen Differenzen sich herstellen kann. Noch hat die Menschheit keine politische Form, und deshalb kann sie auch die Einhaltung von Menschenrechten nicht verbürgen. Freiheit und Gleichheit in Loslösung von letztlich beliebigen Gruppemerkmalen ist für die Bürger nur im Rahmen der ‚Nation’ gewährleistet.“
Migranten wissen das aus Erfahrung. Als Mitglieder einer Weltgesellschaft, verbunden im Internet, fordern sie Gleichheit – doch es gibt keine Weltnation, von der sie den Schutz bekämen, den sie für sich einfordern. Deshalb kommen sie zu uns und suchen Zugang zu ‚Nationen’, die ihren Bürgern nicht nur Pflichten auferlegen, sondern auch Rechte einräumen. Sie wollen nach Europa und innerhalb Europas nach Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien. Hingegen Ungarn, falls es sie akzeptierte, kann sie nicht mit der sehnlich erwünschten „Gleichheit“ der Lebensqualität versorgen.
Das ist so. Wir wissen es alle. Dennoch verlangt die EU von Staaten wie Ungarn, Migranten aufzunehmen, die dort nur durchreisen – zu uns. Die bestimmenden Kräfte der Europäischen Union halten an der Phantasie fest, wir lebten in einer Weltnation. Warum bezeichnen sich dann aber die USA als Ausnahme, als die „exceptional nation“? Was hat Frauen, die ein Kind erwarteten, veranlassen können, in den USA niederzukommen und dem Kind so die amerikanische Staatsbürgerschaft zu sichern?
Die Erklärung, dass es selbstbestimmte Nationen innerhalb dieser Weltnation nicht geben soll, klingt befremdlich. Insbesondere keine mit entwicklungsbedingter, eigener Auslegung der UN-Charta. Ihnen setzt die Weltnation durch ihre Führungsmächte mittels harten Zwangs enge Grenzen. Hunger wird die Trotzigen brechen, Bomben sprechen das klarste Wort. An ihren Grenzen fahren wir soviel Militär auf, dass sie ihre Ressourcen in Rüstung investieren müssen – das wird ihre Bevölkerungen zu der Einsicht bringen, dass wir sie mit vollem Recht unserer Weltnation eingliedern wollen.
Wir müssen das alles tun, weil wir als einzelne Nationen nicht durchsetzungsfähig wären. Die Weltnation ist alternativlos! Eine Weltgesellschaft schaffen! Klingt groß. Allzu groß? Bude: „Vielleicht mag angesichts des Schwankens zwischen grandioser Aufblähung der Leidenschaften und ängstlichem Rückzug auf die Interessen jemand Erbarmen haben mit den Deutschen: ‚Moschele, Moschele, mach dich nicht so klein, so groß bist du gar nicht.’“
Der Ententest
Dieser Test wird angewandt, um einen schwer zu definierenden Sachverhalt auf einfache Art plausibel zu machen. So 2021 vom Finanzminister Singapurs, als eine Parlamentspartei den Vorwurf bestritt, ihr Antrag sei rassistisch. Er sagte: „Aber schauen Sie, wenn es aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente, quakt wir eine Ente, dann ist es eine Ente.“
Der Elefantentest funktioniert ähnlich. In schwierigen Rechtsfällen ist er öfters genannt worden. Die Problematik sei, wie ein Elefant, schwer zu definieren, doch man erkenne sofort, was man vor sich hat, wenn man ihm begegnet.
Sehen wir uns nun an, wie der „Verteidigungs“-Plan der NATO gegen die Russische Föderation aussieht. Er gleicht dem Aufmarschplan der Wehrmacht gegen die Sowjetunion 1941. Es scheint sich um eine Duplizierung des Projektes „Barbarossa“ zu handeln. Freilich würde man in der Brüsseler NATO-Zentrale energisch abstreiten, die Vernichtung Russlands zu beabsichtigen. Doch die Einzelmaßnahmen lassen kaum Zweifel zu. An alle Grenzen Russlands sind Streitkräfte verlegt und sollen verstärkt werden. Die amerikanische Regierung verlautbart durch ihren Präsidenten, der russische Präsident habe abzutreten. Aushungerung der russischen Bevölkerung ist kein geheimes, sondern das offizielle Ziel, um sie zum Aufstand gegen die eigene Regierung und zur Unterwerfung zu nötigen. Die Umzingelung entspricht den Planspielen des damaligen Generalstabs vor dem Überfall aufs Haar. Erst nimmt man die Ukraine, dann Polen, Tschechien ist vorgesehen – und die Strategen rechnen auf den erfolgreichen Durchbruch ans Schwarze Meer durch Einbindung der Türkei.
Völkermord ist diesmal nicht vorgesehen, wäre der naheliegende Einwand. Doch werden wir zugeben müssen, dass die Beseitigung der staatlichen Zentralgewalt im Irak und in Libyen, ferner in afrikanischen und asiatischen Ländern – Vietnam vor längerer, Afghanistan vor kurzer Zeit – zwar nicht dem Holocaust gleichkam, aber doch viel Tod und Leid über die Völker und Länder brachte, die Opfer des US-geführten Krieges um Hegemonie wurden.
Unter US-geführter und NATO-gestützter Hegemonie dürfen wir uns vorstellen, dass kein Staat dieser Erde, auf der wir wohnen, sich unserer Unterwerfung widersetzen darf. Niemand. Kein Land, kein Volk, kein Staat darf sich so etwas wie Selbstregierung leisten. Rein finanziell schon nicht. Als Weltwährung ist der Dollar zu akzeptieren. Wahlweise die Währung Europas, solange es im Gleichschritt mit Washington marschiert.
Geplant ist vor allem die Zurückdrängung Chinas. Damit sie gelingt, muss zuerst Russland unterworfen werden. Das gelingt, wenn zuerst seine Nachbarstaaten auf Linie gepeitscht werden, „they are whipped in line“.
Dass wir das mitmachen, ist nicht selbstverständlich. Noch vor zwei Jahren hatten siebzig Prozent der Deutschen vor den USA mehr Angst als vor Russland. Wie konnte die Stimmung in so kurzer Zeit ins Gegenteil kippen? Sicher nicht deshalb, weil Russland sich gegen eine Neuauflage des Unternehmens Barbarossa wehrt. Vielmehr wird die Vorsichtsmaßnahme uns als „Putins Krieg“ verkauft. Die Propaganda des Reichssenders Brüssel mit seinen angeschlossenen Sendern hat das geschafft.
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Im Netz gefunden:
In 2021, a version of the test was used by Singapore's Minister of Finance Lawrence Wong in response to claims by members of the Progress Singapore Party that their parliamentary motion on free trade agreements was not racist. He said:
But look, if it looks like a duck, if it walks like a duck, if it quacks like a duck, it is a duck.[13]
Similarly, the term elephant test refers to situations in which an idea or thing, "is hard to describe, but instantly recognizable when spotted".[14]
The term is often used in legal cases when there is an issue which may be open to interpretation,[15][16] such as when Lord Justice Stuart-Smith referred to "...the well-known elephant test. It is difficult to describe, but you know it when you see it",[1 Lord Hughes (in discussing dishonesty) opined "...like the elephant, it is characterised more by recognition when encountered than by definition."
similar incantation (used however as a rule of exclusion) was invoked by the concurring opinion of Justice Potter Stewart in U.S. 184 (1964), an obscenity case. He stated that the Constitution protected all obscenity except "hard-core pornography". Stewart opined, "I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description; and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that."
Freitag, 25. März 2022
Unser Krieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Siegermächte beschlossen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Sanktionen gegen Staaten beschließen darf, die Völkerrecht brechen. Die Sanktionen durften aber nur einstimmig durch die vier (dann fünf) ständigen Mitglieder verhängt werden. Seither haben die USA sich das Recht genommen, Strafen ohne die Zustimmung des Sicherheitsrates zu verhängen. Sie haben sich selbst und sich allein an die Stelle der Siegermächte gesetzt. Ihre Alliierten sind ihnen meist gefolgt. Bei uns in Deutschland wird die Gefolgschaft als „Übernahme von Verantwortung für die Durchsetzung unserer Werte“ begründet. Die Formel bedeutet, dass wir durch harte Strafen in anderen Ländern rechtsstaatliche Demokratien erzwingen sollen und auch können.
Die Tatsachen sprechen allerdings deutlich dagegen. Im Mittleren Osten sind durch Bombardements vormals intakte Infrastrukturen zerstört, die medizinische und soziale Versorgung, die Lebensmittelproduktion, der Zugang zur Bildung fast unmöglich gemacht worden. In manchen dieser Staaten wurden bestehende Strukturen so weitgehend zerstört, dass Bürgerkriege toben, Sklaven auf offenem Markt gehandelt und verkauft werden, und Wohlstand durch himmelschreiendes Elend ersetzt wurde – alles durch unsere Mitwirkung an der „Übernahme von Verantwortung für die Durchsetzung unserer Werte“.
Das alles ist wahr und seriös dokumentiert, es ist zweifelsfrei. Dass es dennoch möglich ist, die ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verhängten Strafen als Eintreten für Menschenrechte darzustellen, erscheint unmöglich. Doch es gelingt. Unsere westliche Publizistik ist widerspruchslos auf diesen Kriegskurs eingeschwenkt und behauptet, es sei Friedenspolitik.
Dass die allgemein bekannten Tatsachen im Widerspruch zu öffentlich erklärten Zielen dieser Politik stehen und die Ziele mit den angewandten Mitteln nirgendwo erreicht worden sind, ist unseren Nachrichtenmedien keine Analyse wert. Die Verursacher seien nicht wir selbst, wird verbreitet, sondern diejenigen, die sich unseren gutgemeinten Feldzügen militärischer, wirtschaftlicher, kultureller Art aus unbegreiflichen Gründen widersetzen. Wir müssten daher noch viel schärfere Strafen verhängen, zum Beispiel Hunger weltweit als Waffe für uns nutzen.
Diese Politik wird durchgesetzt von der Nation, die sich selbst als exceptional bezeichnet, als Ausnahme: Fünf Prozent der Weltbevölkerung erklären den verbleibenden 95 Prozent, diese seien zur Gefolgschaft verpflichtet – eben kraft des exceptionalism, des Ausnahmecharakters der einen Nation.
Wie sieht es nun dort aus? Fragen wird man dürfen. Die Antwort ist, dass ein kleines Prozent der Bevölkerung dort den gesamten Reichtum des Landes auf sich vereinigt. Die andern streiten sich um den Rest und bewaffnen sich einzeln und gruppenweise bis an die Zähne, um ihre Interessen durchzusetzen. Das ist nicht übertrieben, es stimmt!
Diese unsere Schutz- und Trutzmacht unterhält weltweit 800 Militärbasen, gibt für Rüstung mehr aus als der Rest entwickelter Länder zusammen – und nimmt die Verrottung der eigenen Infrastruktur dafür in Kauf. Und auch innenpolitisch sucht die jeweilige Regierung die Ursache nicht im eigenen Verhalten, sondern im Verhalten von Störern, Aufrührern, Oppositionellen, die vor allem durch Bestrafung zum rechten Verhalten zu bewegen seien.
Der offenbare Wahnwitz wird von links mit dem Argument kritisiert, er diene der Rüstungsindustrie. Doch in Deutschland gibt es keine so bedeutende Rüstungsindustrie, dass sie fähig wäre, unsinnige politische Beschlüsse durchzusetzen. In den USA ist es anders. Bei uns jedoch muss es Politiker geben, die sich andere Vorteile von der Aufrüstung versprechen als Riesenprofite für Rheinmetall.
Was für Vorteile das sein mögen, ist „anybody’s guess“, es bleibt fraglich. Einstweilen steht nur fest, dass dem deutschen Wählervolk über Jahre keine Aufrüstung plausibel gemacht werden konnte. Jetzt wird sie publizistisch mit dem Krieg begründet, der als Putins Krieg bezeichnet wird.
Es ist aber nicht Putins Krieg, sondern unser dritter Krieg gegen Russland. Ob der Erfolg diesmal wohl die eingesetzten Mittel rechtfertigen wird?
Albert Einstein soll einmal gesagt haben, dass es einen Mangel an Intelligenz beweist, wenn man von der ständigen Wiederholung desselben Versuchs irgendwann ein günstiges Resultat erhofft, anstatt neue Versuche zu machen.
Deshalb sei es noch einmal und mit allem Nachdruck betont: Die für unser Land und unser Westeuropa verantwortlichen Politiker sind mit Sicherheit intelligent genug, um die Resultate ihrer Entscheidungen zu erkennen! Das bedeutet, dass Chaos, Verwüstung, Hunger, Massenflucht aus Asien und Afrika als hinnehmbar beurteilt werden im Vergleich zu den Vorteilen, die unsere US-geführten Regierungen daraus ziehen.
Mittwoch, 23. März 2022
Alles, was Recht ist
Von alleine wäre ich nicht darauf gekommen, doch ein hochangesehener, jahrzehntelang für die UNO tätiger Experte für Völkerrecht hat mich überzeugt: Nachdem „Fxxx the EU“- Victoria Nuland das Verbot der Charta, die Regierung eines fremden Staates zu stürzen, als verantwortliche Außenpolitikerin der USA nicht nur gebrochen, sondern sogar damit öffentlich geprahlt hat, war das auf diesen Putsch folgende Parlament nicht legitimiert, die Ukraine zu regieren. Die russische Bevölkerung der Krim hatte somit das Recht, sich gegen diese illegale Regierung zu erheben und ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung zu nutzen. Gleiches habe für die russischen Provinzen im Donbass gegolten, sie hätten zu Recht Selbstbestimmung gefordert. Die Regierung in Kiew habe jedenfalls die Pflicht gehabt, mit den nur angeblich spalterischen Provinzen zu verhandeln. Dieses Recht habe Kiew jahrelang ignoriert, sowie auch die eigene Pflicht zu Verhandlungen vernachlässigt und dann gar geleugnet.
Ferner macht der Vökerrechtler darauf aufmerksam, dass die Bedrohung fremder Staaten zu dem Zweck, ihnen die eigenen Absichten aufzuzwingen, sogenannte Farbrevolutionen also, verboten sind. Dass die US-geführte NATO ständig Farbrevolutionen angezettelt habe, sei ein Bruch des Völkerrechts. Genannt werden vor allem IRAK, Afghanistan, Libyen, Syrien, der arabische „Frühling“ – und immer wieder die Ukraine.
Ferner betont der Experte, der damalige Außenminister seines Landes, James Baker, habe seinen russischen Partnern versprochen, die Wiedervereinigung Deutschlands werde keinesfalls zur Expansion der NATO führen, diese werde den russischen Grenzen nicht um einen einzigen „inch“ näher rücken. Das sei alles in genauesten Notizen festgehalten und beglaubigt. „Ich schäme mich für mein Land“, sagt er und fügt hinzu, der NATO-Chef Stoltenberg habe aktuell gesagt, die Russen würden an ihren Grenzen nicht weniger NATO bekommen, sonder mehr. „That’s adding insult to injury.“ Lange habe Russland auf gütliche Einigung gehofft – als diese ausblieb, habe die russische Führung ihr Recht wahrgenommen, das eigene Land zu schützen.
Dass der aktuelle Krieg nicht Putins Krieg ist, sondern der Krieg der US-geführten NATO, und dass er fürchterliche Folgen haben würde – ist vorhergesagt worden von bedeutenden US-amerikanischen Fachleuten wie Henry Kissinger, John Jay Miersheimer, George F. Kennan. Dass dieser Krieg aber auch nach der UNO-Charta auf dreisten Rechtsbrüchen gründet – war mir neu.
Moralisch verwerflich, politisch riskant, unmenschlich in den Mitteln – alles klar. Aber auch illegal!! Der Experte ist Alfred de Zayas, ein „Former UN Independent Expert“ für die Beurteilung von Verstößen gegen Menschenrechte, aktuell „Prof. of Intl. Law at the Geneva School of Diplomacy“. Eine Stimme der Humanität inmitten des Wolfsgeheuls nach Blut, wenn es nur Russenblut ist. Oder das Blut von Russenverstehern wie Gerhard Schröder. Oder – seinerzeit – Thomas Mann.
Die Folgen könnten noch übler sein als kurzfristig abzusehen. De Zayas warnt vor der „precedence of permissibility“. Da die USA und ihre Verbündeten so sehr oft Völkerrecht gebrochen hätten, ohne dass man sie zur Verantwortung zog, habe die Weltgemeinschaft sich mit einer Art „Aufweichung” des Völkerrechts abgefunden. „Macht geht vor Recht“ wie immer schon? Das würde bedeuten, dass Menschen sich ihres verbrieften Rechts begeben, ihre Vernunft zu gebrauchen und historische Fatalitäten anzuhalten, um einen Neubeginn zu wagen.
Mittwoch, 9. März 2022
Alle konnten es voraussehen
Bilder von Flüchtlingskindern greifen uns Deutschen besonders ans Herz. Viele inzwischen alt gewordene Landsleute haben mit fünf Jahren genauso ausgesehen, dick eingemummelt und mit einer Russenmütze auf dem Kopf. Sie waren auf der Flucht aus dem winterkalten Osten – mit Mutter und Großmutter; ohne Vater und Großvater, die waren gefallen, gefangen oder noch in Kämpfe verstrickt. Wir erinnern uns. Wir möchten so gerne helfen – am besten nachhaltig. Die Politiker sagen uns, wie es ginge. Man muss die Kriege beenden! Diese Erklärung ist jedoch unvollständig. Wir argwöhnen, dass die Verwüstung des Nahen Ostens nicht allein auf Bürgerkriege zurückzuführen ist.
Etwas stimmt nicht
Krimi-Autor Michael Molsner über Thriller, die niemand erleben will
Ein Gespenst geht um, es heißt Argwohn. Was erzählt man uns nicht?
Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatten alarmierende Berichte vorgelegen. Danach plante der ohnehin für Verbrechen verrufene libysche Diktator Muammar Gaddafi eine Militäraktion gegen friedliche Demonstranten. Ein geradezu klassischer Fall für die responsibility to protect schien vorzuliegen, die Ausweitung der Menschenrechte zum Schutz der Zivilbevölkerung vor eigenen Regierungen. Frankreich und Großbritannien intervenierten militärisch. Gaddafi wurde ermordet.
In einem Interview kommentierte die damalige Außenministerin der USA, Hillary Clinton, die Ereignisse: „We came, we saw, he died.“ Ausdrücklich: We came=Wir! Washington muss zuvor sein Einverständnis erklärt haben: We came.Vorgesehen war lediglich die Errichtung einer Schutzzone gewesen.
Und nun? In der Ausgabe vom 08. Februar 2016 berichtet die New York Times International, dass sich seit Monaten Spezialkommandos der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Libyen befinden. Einem Land mit zwei Regierungen, die sich spinnefeind sind, und das terrorisiert wird von bewaffneten Trupps.
Die Spezialkommandos trainieren und beraten libysche Milizen, denen nach genauer Überprüfung ihrer Vergangenheit und Absichten zugetraut wird, den sich ständig ausbreitenden Islamischen Staat zum Rückzug zu zwingen. Die Kommandos und Milizen sollen IS-Stützpunkte als Ziele für Luftangriffe melden. Einen ausgeweiteten Plan für Militärschläge aus der Luft hat das Pentagon dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen. Dieser zögere noch, meldet die Zeitung, denn das Außenministerium warne vor unerwünschten Konsequenzen für einen Plan der Vereinten Nationen. Dieser sieht vor, die zwei verfeindeten libyschen Regierungen zu einem nationalen Regime zu vereinigen. Beide Regierungen seien, ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung, gegen ausländische Militärinterventionen.
Man hat damit ja auch üble Erfahrungen gemacht. Statt der Einrichtung einer Schutzzone für die Zivilbevölkerung wurden alle staatlichen Strukturen Libyens zerstört. Chaos und Elend sind die Folge. Dies ist der aktuelle Stand fünf Jahre nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates, seine responsibility to protect wahrzunehmen.
Auch Russland und China hatten zugestimmt. Diesen zwei Veto-Mächten wird nun vorgeworfen, dass sie für Syrien eine Intervention nach libyschem Vorbild durch ihr Veto im Sicherheitsrat verhindert haben. Beide rechtfertigen sich damit, dass Libyen kein ermutigendes Beispiel sei. Sie behaupten sogar, unter dem Deckmantel der responsibility to protect seien geopolitische Ambitionen der Interventionsmächte verborgen gewesen. Kritiker wiederum entgegnen, China und Russland hätten auch ihrerseits Interessen in Syrien schützen. China hat bedeutende Investitionen in Afrika getätigt und möchte verhindern, dass weiterhin Waffen und Dschihadisten von Libyen aus nach Süden eindringen. Die Russen schützen ihren Hafen an der syrischen Mittelmeerküste.
Auslöser der Verwüstung des Nahen Ostens war nach übereinstimmender Auffassung aller Kommentatoren George W. Bushs Invasion des Irak. Sie gebar den IS. Vom Irak aus drangen die Dschihadisten nach Syrien vor. Es war US-Präsident Obama persönlich, der den Sturz des syrischen Präsidenten ankündigte mit den Worten: „Assad has lost any legitimacy to govern, he has to go“. Die USA trainierten, berieten, bewaffneten und finanzierten in Syrien aufständische Milizen, von denen es mittlerweile Hunderte geben soll. Fünf Jahre lang haben seither US-Flugzeuge syrische Regierungsstellungen bombardiert. Der gewünschte Rücktritt des syrischen Präsidenten Bashar al Assad konnte nicht erzwungen werden. Die Folgen für die Zivilbevölkerung waren verheerend.
Auf Bitte der syrischen Regierung um Unterstützung entschloss sich die russische Regierung, ihrem langjährigen Alliierten beizustehen. Das ist einige Monate her. Die Konsequenz ist ein Waffenstillstand, der vorerst hält. Kritiker wenden ein, dass die russischen Luftangriffe auf Aleppo eine neue Fluchtwelle ausgelöst hätten. Doch aus der gepeinigten Region flüchten seit fünf Jahren, nicht erst seit den russischen Angriffen, verzweifelte Menschen zu uns nach Europa. Vor allem nach Deutschland – die wir uns an den Umstürzen gar nicht beteiligen. Oder tun wir das?
Nicht alle unsere Medien melden, dass Russland nach geltendem Völkerrecht legitimiert ist, die syrische Regierung zu unterstützen – während die Westmächte kein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vorweisen können, das es ihnen erlauben würde, unter Berufung auf die responsibility to protect Waffenhilfe für bewaffnete Aufständische zu leisten. Die Intervention des Westens bewegt sich in einer völkerrechtlichen Grauzone.
Was ist beabsichtigt? Warum ein Umsturz nach dem anderen, da doch jeder weiß: Wo zentralstaatliche Strukturen zerstört wurden, hat Chaos sich ausgebreitet - ?
Verschwörungstheoretiker argwöhnen: Es muss gewichtige Interessen geben, die hinter den Umsturzpolitikern stehen. Kollateralschäden auch schrecklichster Art würden in Kauf genommen. In Kauf. Was wird gekauft, was handeln diese Interessenten für sich aus oder erhoffen es sich auch nur?
Wir sind schon pleite hörte man während der amerikanischen Vorwahlen einen Sprecher der Republikaner sagen. Denn die USA haben hohe Schulden, Japan noch viel höhere. Ob das ein Grund dafür ist, dass die Regierungen beider Staaten einen Militärpakt geschlossen haben? Auch die Handelsbilanz Großbritanniens ist negativ. Ob die massive Aufrüstung Großbritanniens damit zusammenhängt? In der New York Times International wird David Cameron zitiert: Im Osten ein aggressives Russland, im Süden der IS, dagegen müssen wir uns wappnen. Auch hohe Kosten müssten um der Selbsterhaltung willen getragen werden. Vom Staat. Vom Steuerzahler. Der reagiert argwöhnisch. Etwas stimmt nicht.
Russland hat nach der Implosion der Sowjetunion für seine Verteidigung kaum Geld ausgegeben. Man erinnert sich an die höhnischen Meldungen, die bis vor wenigen Jahren durch westliche Medien geisterten: Russlands Waffen hoffnungslos veraltet. Atom-U-Boote rosten vor sich hin. Soldaten von Vorgesetzten misshandelt und verzweifelt bis zur Desertion.
Ein Umsturz in der Ukraine erschien angesichts der offenbaren Wehrlosigkeit der Russen leicht machbar. Janukowitsch muss weg, sagte meine ukrainische Ärztin vor zwei Jahren. Jetzt berichtet sie von verzweifelten Hilferufen ihrer Freundinnen in Kiew, die dringend Medikamente brauchen, die sie sich nicht leisten können. Wofür haben wir den Maidan gehabt, berichten sie weinend am Telefon. Und die Ärztin resümiert: „Es ist schlimmer als vorher“. Sie möge die Briefe schon gar nicht mehr lesen, es seien lauter Klagen und Bitten um Trost. „Man schämt sich, dass es einem in Deutschland gut geht“.
Der Umsturz in der Ukraine war nicht erst seit fünf, er war bereits seit zehn Jahren geplant. Das war (und ist) in Foreign Affairs nachzulesen, der angesehensten Zeitschrift für amerikanische Außenpolitik. In der Nummer vom September-Oktober 2014 war aufgelistet, wieviele Dollarmilliarden amerikanische Stiftungen in den Umsturz investiert haben, der zunächst scheiterte (die orangene Revolution) und dann gelang (Vertreibung Janukowitschs).
Hier der Link zum Beitrag von John J. Mearsheimer:
https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2014-08-18/why-ukraine-crisis-west-s-fault
Im Osten des Landes hatte Russland Interessen, wie jetzt in Syrien – aber was war Russland? Nur eine Regionalmacht, meinte Präsident Obama. Offenkundig ist, dass nicht nur russische Interessen ignoriert wurden, auch unsere westeuropäischen: The EU, you know, fuck the EU, Jazenjuk is our man. Dieser Ministerpräsident, der sich seither unfähig erweist, die Korruption ukrainischer Oligarchen zu bekämpfen.
Die deutsche Regierung beteiligt sich seit zwei Jahren aktiv und nachdrücklich am bereits dritten Versuch in nur hundert Jahren, Russland durch Hunger und Not gefügig zu machen. Begründet wird es mit psychologischen Argumenten: Der Präsident der Russischen Föderation sei unberechenbar. Ist er ein neuer Zar, besessen von Eroberungswahn? Ein zweiter Hitler – zu dem Hillary Clinton ihn erklärte? Hat er verbrecherisch gehandelt, wie Angela Merkel ihm ins Gesicht sagte?
Wir hören viel. Unbeantwortet aber bleibt die wichtigste Frage: Weshalb die vielen Umsturzversuche? Geht es tatsächlich um die responsibility to protect, die Sicherung von Menschenrechten? Was veranlasst westeuropäische Politiker, einem Regimewechsel auch in Russland durch Wirtschaftssanktionen Vorschub zu leisten? Und selbst gesetzt, er gelänge: Wären die Folgen nicht noch katastrophaler als jetzt die Experimente im Nahen Osten? Würden nicht viele Millionen Flüchtlinge mehr ihre Verzweiflung und Not zu uns hereintragen? Was hätten unsere Politiker, unsere Medien davon? Was?!
Argwohn greift um sich. Hass vergiftet unsere Diskussionen. Niemand traut mehr dem anderen. Jeder bezichtigt jeden der Schlechtigkeit. Das Kausativum von Hass ist hetzen. Jeder hetzt gegen jeden und fühlt sich dazu berechtigt, solange es Vertreter der abgelehnten Richtung sind, gegen die gehetzt wird. Doch Hetze und Hass ändern nichts. Wir werden noch mehr Flüchtlingskinder sehen, wie alt gewordene Deutsche einmal eines gewesen sind. Dick eingemummelt in Schal und Mäntelchen, mit einer Russenmütze auf dem Kopf.
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