Freitag, 15. Juli 2016

Dreizehnter Brief


Prägungen

Jesus war Populist. Was er der Bevölkerung predigte, wurde von den herrschenden geistlichen und weltlichen Eliten als gefährlich empfunden. Sein Ende ist bekannt und nicht ermutigend – und doch hat es mich als Kind nachhaltig geprägt, allerdings indirekt, denn ich war nicht fromm erzogen, sondern liberal.
Die Botschaft, dass ich mutig für meine Wahrheit einstehen soll, auch wenn es gefährlich ist, hat mich aus Amerika erreicht, dem Amerika Roosevelts wohlgemerkt. Errol Flynn als Dr. med. Peter Blood sagt dem Regenten ins Gesicht, dass sein König ein Ungeheuer sein muss, und dass du, Regent, bald sterben wirst, denn du leidest an einer unheilbaren Krankheit. Der hellsichtige Arzt wird als Sklave verkauft.
Tröstlich für mich mitzitternden Knaben, dass er an keinem Kreuz endet, sondern als Gouverneur der Insel, auf die er verkauft wurde.
Wie aber, wenn man nicht Gouverneur wird, sondern Sklave bleibt? Das ist mir passiert und nicht ganz unerwartet gekommen, denn mittlerweile hatte mich die Verpflichtung zu Anstand und Wahrhaftigkeit über Raymond Chandler erreicht. Sein Detektiv Philip Marlowe macht sich keine Illusionen über die Korruption, die seine Welt vergiftet, lässt sich jedoch nicht anstecken. „Down these mean streets a man must go who is not himself mean“, habe ich bei Chandler gelesen. Und auch, dass man nicht jeden Kampf gewinnen kann. Zweimal wird Marlowe von dem Kriminalbeamten, dem er zu widersprechen wagt, niedergeschlagen – ein drittes Mal schweigt er, zwei Mal reicht. Marlowe kehrt zurück in seine Wohnung und blickt hinaus auf das n ächtliche Los Angeles. Er beobachtet, wie die Stadt ruhig wird, „und allmähölich wurde auch ich wieder ruhig“.
Tröstlich für mich erwachsenen Leser, dass Marlowe den Schläger als Mörder überführt und daher besiegt.
Wie aber, wenn ich einen Mörder überführe und dennoch nicht besiege? Das habe ich erlebt, als ich in einer Redaktionskonferenz den Verlagsleiter über den Filmproduzenten Arthur Brauner sagen hörte: „Den haben sie auch zu vergasen vergessen“. Ich meldete es den Eigentümern des Verlages, zwei Rechtsanwälten, und forderte Konsequenzen. Die Konsequenz war, dass ich entlassen wurde. Da ich mit einer Klage drohte, wurde die Entlassung zurückgenommen, ich hätte meinen Posten behalten können – doch ich mochte unter diesem Verlagsleiter und solchen Verlagseigentümern nicht mehr arbeiten, ließ mir drei Monatsgehälter auszahlen und nutzte die Summe, um die Arbeit an meinem ersten Krimiknaltroman zu finanzieren, den dann 1968 – bedeutsames Datum – als Rowohlt Thriller erschienen ist: „Und dann hab ich geschossen.“
Dennoch ein Sieg? Ich will nichts schönreden. Die erwünschten finanziellen Erfolge als freier Schriftsteller stellten sich zunächst nicht ein. Ich musste begreifen, dass ich als Wiedergänger von Jesus-Peter Blood-Philip Marlowe ängstigende Unsicherheit in Kauf nahm. Es schien günstiger,  wenn ich mit den Wölfen heulte, mit dem Rudel lief, mich bestehenden Machtverhältnisse einfügte.
Das ist nicht gelungen, mir ist es ergangen wie Saulus von Tarsus. Bekanntlich hat er im Auftrag der zur Zeit Jesu herrschenden Eliten dessen Anhänger grausam verfolgt und ist dafür reich belohnt worden. Bis er vor Damaskus zusammenbrach.
So ist es mir ergangen. Ich war gemütsmäßig nicht dafür ausgestattet, für Geld zu lügen. „Wir lügen alle“, gestand die große Journalistin Margret Boveri im Interview mit Uwe Johnson. Und hat gerade damit eine bedeutsame Erkenntnis ausgesprochen. Man muss das aber auch aushalten. Genauer: Man muss es dennoch mit sich selbst aushalten.
Das war und ist mir verwehrt.
Ich muss aufrichtig bleiben, ich kann nicht anders. Versuche ich es mit Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verschweigen, gar mit Lügen, dann werde ich krank, ganz buchstäblich – „wenn die Zunge versagt, redet der Körper statt ihrer“ habe ich irgendwo gelesen. Ein heiliger Paulus bin ich darüber nicht geworden.
Aber dass ich zu Marx zurückfinde, den ich mit dreißig Jahren entdeckt habe, sollte ich eigentlich nicht veröffentlichen. Da uns eingeredet wird, seine Erkenntnisse seien veraltet, und das auch stimmt, wird mich niemand begreifen. Verschwiegen und verkannt wird, dass Marx eine Methode entwickelt hat, um die Verflechtung ökonomischer und politischer Verhältnisse zu analysieren, und dass diese Methode – auf unsere allerdings veränderten Verhältnisse angesetzt – heute noch wertvolle Resultate liefern könnte.  
„Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müsste ich lügen“, sagte der Bürgermeister der Allgäuer Gemeinde, in der ich fast zwanzig Jahre gelebt habe und in deren Rat ich saß. Ein kluger und ein ehrlicher Mann.
Will ich Jesus-Blood-Marlowe sein, ziehe ich Hass und Wut weniger der Mächtigen (die ignorieren mich), als ihrer Gefolgsleute auf mich (die sind wie Sand am Meer so zahlreich).
Will ich Saulus sein, breche ich zusammen und werde dennoch kein Heiliger, nur ein Nerd.

Um mit einem Scherz zu schließen. „ Man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen“, pflegte meine Tante Lilo zu sagen, eine der vielen hilfreichen und guten Frauen in meinem Leben.

  


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