Prägungen
Jesus war Populist. Was er der Bevölkerung predigte, wurde
von den herrschenden geistlichen und weltlichen Eliten als gefährlich
empfunden. Sein Ende ist bekannt und nicht ermutigend – und doch hat es mich
als Kind nachhaltig geprägt, allerdings indirekt, denn ich war nicht fromm
erzogen, sondern liberal.
Die Botschaft, dass ich mutig für meine Wahrheit einstehen
soll, auch wenn es gefährlich ist, hat mich aus Amerika erreicht, dem Amerika
Roosevelts wohlgemerkt. Errol Flynn als Dr. med. Peter Blood sagt dem Regenten
ins Gesicht, dass sein König ein Ungeheuer sein muss, und dass du, Regent, bald
sterben wirst, denn du leidest an einer unheilbaren Krankheit. Der hellsichtige
Arzt wird als Sklave verkauft.
Tröstlich für mich mitzitternden Knaben, dass er an keinem
Kreuz endet, sondern als Gouverneur der Insel, auf die er verkauft wurde.
Wie aber, wenn man nicht Gouverneur wird, sondern Sklave
bleibt? Das ist mir passiert und nicht ganz unerwartet gekommen, denn
mittlerweile hatte mich die Verpflichtung zu Anstand und Wahrhaftigkeit über
Raymond Chandler erreicht. Sein Detektiv Philip Marlowe macht sich keine
Illusionen über die Korruption, die seine Welt vergiftet, lässt sich jedoch
nicht anstecken. „Down these
mean streets a man must go who is not himself mean“, habe ich bei Chandler
gelesen. Und auch, dass man nicht jeden Kampf gewinnen kann. Zweimal
wird Marlowe von dem Kriminalbeamten, dem er zu widersprechen wagt,
niedergeschlagen – ein drittes Mal schweigt er, zwei Mal reicht. Marlowe kehrt
zurück in seine Wohnung und blickt hinaus auf das n ächtliche Los Angeles. Er
beobachtet, wie die Stadt ruhig wird, „und allmähölich wurde auch ich wieder
ruhig“.
Tröstlich für mich erwachsenen Leser, dass Marlowe den
Schläger als Mörder überführt und daher besiegt.
Wie aber, wenn ich einen Mörder überführe und dennoch nicht
besiege? Das habe ich erlebt, als ich in einer Redaktionskonferenz den
Verlagsleiter über den Filmproduzenten Arthur Brauner sagen hörte: „Den haben
sie auch zu vergasen vergessen“. Ich meldete es den Eigentümern des Verlages,
zwei Rechtsanwälten, und forderte Konsequenzen. Die Konsequenz war, dass ich
entlassen wurde. Da ich mit einer Klage drohte, wurde die Entlassung
zurückgenommen, ich hätte meinen Posten behalten können – doch ich mochte unter
diesem Verlagsleiter und solchen Verlagseigentümern nicht mehr arbeiten, ließ
mir drei Monatsgehälter auszahlen und nutzte die Summe, um die Arbeit an meinem
ersten Krimiknaltroman zu finanzieren, den dann 1968 – bedeutsames Datum – als
Rowohlt Thriller erschienen ist: „Und dann hab ich geschossen.“
Dennoch ein Sieg? Ich will nichts schönreden. Die
erwünschten finanziellen Erfolge als freier Schriftsteller stellten sich
zunächst nicht ein. Ich musste begreifen, dass ich als Wiedergänger von Jesus-Peter
Blood-Philip Marlowe ängstigende Unsicherheit in Kauf nahm. Es schien günstiger,
wenn ich mit den Wölfen heulte, mit dem
Rudel lief, mich bestehenden Machtverhältnisse einfügte.
Das ist nicht gelungen, mir ist es ergangen wie Saulus von
Tarsus. Bekanntlich hat er im Auftrag der zur Zeit Jesu herrschenden Eliten
dessen Anhänger grausam verfolgt und ist dafür reich belohnt worden. Bis er vor
Damaskus zusammenbrach.
So ist es mir ergangen. Ich war gemütsmäßig nicht dafür
ausgestattet, für Geld zu lügen. „Wir lügen alle“, gestand die große
Journalistin Margret Boveri im Interview mit Uwe Johnson. Und hat gerade damit
eine bedeutsame Erkenntnis ausgesprochen. Man muss das aber auch aushalten.
Genauer: Man muss es dennoch mit sich selbst aushalten.
Das war und ist mir verwehrt.
Ich muss aufrichtig bleiben, ich kann nicht anders. Versuche
ich es mit Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verschweigen, gar mit Lügen, dann
werde ich krank, ganz buchstäblich – „wenn die Zunge versagt, redet der Körper
statt ihrer“ habe ich irgendwo gelesen. Ein heiliger Paulus bin ich darüber
nicht geworden.
Aber dass ich zu Marx zurückfinde, den ich mit dreißig
Jahren entdeckt habe, sollte ich eigentlich nicht veröffentlichen. Da uns
eingeredet wird, seine Erkenntnisse seien veraltet, und das auch stimmt, wird
mich niemand begreifen. Verschwiegen und verkannt wird, dass Marx eine Methode
entwickelt hat, um die Verflechtung ökonomischer und politischer Verhältnisse
zu analysieren, und dass diese Methode – auf unsere allerdings veränderten Verhältnisse
angesetzt – heute noch wertvolle Resultate liefern könnte.
„Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müsste ich lügen“,
sagte der Bürgermeister der Allgäuer Gemeinde, in der ich fast zwanzig Jahre
gelebt habe und in deren Rat ich saß. Ein kluger und ein ehrlicher Mann.
Will ich Jesus-Blood-Marlowe sein, ziehe ich Hass und Wut
weniger der Mächtigen (die ignorieren mich), als ihrer Gefolgsleute auf mich (die
sind wie Sand am Meer so zahlreich).
Will ich Saulus sein, breche ich zusammen und werde dennoch
kein Heiliger, nur ein Nerd.
Um mit einem Scherz zu schließen. „ Man hat’s nicht leicht,
aber leicht hat’s einen“, pflegte meine Tante Lilo zu sagen, eine der vielen
hilfreichen und guten Frauen in meinem Leben.
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