Donnerstag, 30. Januar 2025

Unverdrossen

Kollegin Anne Frank Anne Frank ist 1929 geboren, wäre zehn Jahre älter als ich jetzt. Eine Freundin machte mich anlässlich des Gedenkens an den Holocaust darauf aufmerksam, und ich erinnerte mich an den Besuch, den meine Frau und ich dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam gemacht haben. Die Erinnerung stieg in mir auf, zusammen mit den Gefühlen. Und dass ich mir geschworen habe, Annes Vermächtnis zu achten, indem ich niemals Massenmorde und Hetze gegen andere Völker, Rassen, Religionen, Veranlagungen gutheiße. Wie es meine Art ist, habe ich mich mit dem Gefühlsüberschwang nicht begnügt. Ich suchte das Buch heraus, das auf 800 Seiten Annes gesamten Nachlass enthält. An mancherlei konnte ich mich sofort erinnern, anderes entdeckte ich neu, so im Schöne-Sätze-Buch: „Wir würden alle gern in vollem Sommer enden, wenn Schönheit über den Rasen auf uns zuschreitet.“ Aus der Forsyte-Saga. Strophen von Goethe hatte sie wortwörtlich aufgeschrieben. Aus dem „Egmont“ Klärchens Ängste um den Geliebten: „Freudvoll/und leidvoll/Gedankenvoll sein; Hangen und Bangen /in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend,/zum Tode betrübt; Glücklich allein/ Ist die Seele, die liebt,“ Februar 1944… Und alle Verse von Goethes „Gefunden“: Ich ging im Walde so vor mich hin – wusste oder spürte sie, dass es ein Liebesgedicht war und dass Christiane Vulpius gemeint war? Ich habe es spät in meinem Leben begriffen. Bevor Anne Frank untertauchen musste, wohnte sie zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester von 1933 bis 1942 am Merwedeplein in Amsterdam-Süd. Sie verlebten hier eine glückliche Zeit, bis die Niederlande von Nazi-Deutschland besetzt wurden. Der Umzug in die Prinsengracht wurde unvermeidbar, wo ihr Vater ein Versteck vorbereitet hatte. Die Fotografie der Hollywoodschönheit Hedy Lamarr an der Wand hat mich zu Tränen gerührt. Ein Missverständnis, Anne wollte keineswegs nur schön werden, wie andere junge Mädchen, sondern auch so klug wie LaMarr. Anne wollte beides, denke ich. Im April 1944 notiert sie: „…werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr! Mit Schreiben kann ich alles ausdrücken, meine Gedanken, meine Ideale und meine Phantsasien.“ Sie setzt Standards für Journalisten, weckt Mut zur Wahrhaftigkeit und zu unseren Träumen. Ein ungeheurer Zorn auf ihre Mörder steigt in mir auf. Ich will ihn umsetzen in Unverdrossenheit bei der Verbreitung von erkennbaren Tatsachen.

Mittwoch, 29. Januar 2025

Alte Hüte, neue Empörung

Interessanter Einfall Ich verdanke ihn meiner Frau. Sie beklagte heute, es sei in der vergangenen Nacht das langweiligste Fernsehprogramm gewesen, das sie jemals im Angebot gesehen habe. Alle und selbst Nuhr, den sie schätzt, hätten Trump geschmäht, als ob es kein anderes Thema gebe. Und sie berichtete mir, Nuhr habe den jüngeren Trump zitiert, der – nach ihrer Erinnerung – etwa gesagt habe: Wenn du Macht hast und reich bist, kannst du jeder Frau an die Pussy gehen. Nuhr fand, allein das kennzeichne Trump für alle Zeit; als widerlichen Typen, meint er wohl. Ja, und dazu fiel mir nun etwas ein, das ich unerhört interessant und kolossal wichtig finde. Ich bitte um Beachtung, es ist nicht ironisch gemeint, sondern eine Wahrheit. Dass Macht sexy sei, hat bereits Kissinger gesagt. Kennedy hat es gelebt und geheim gehalten. Bill Clinton haben seine Gegner in einer Honigfalle (Lewinsky!) scheitern lassen wollen – es ging bekanntlich daneben, er wurde mit mehr Stimmen als zuvor wiedergewählt. Es ist der Roland-Kaiser-Effekt. Je sexualisierter seine Schlagertexte, desto begeisterter seine Fans, auch und gerade die weiblichen! Frauen mögen einen Mann, der spüren lässt, dass er sie begehrt, haben will, genießen will, von ihnen träumt und sie anschwärmt. „Wunderbar, wunderbar, diese Nacht so sternenklar, und wir zwei sind ein Paar, das ist wirklich wunderbar.“ Wenn man noch weiter zurückgeht, zeigt sich, dass Macht und Reichtum in der Tat erotische Partner gewinnt. Edward VII., naja. Auch unter Schwulen ist das so, und unter Lesben, es gibt eine Biografie von Patricia Highsmith, nebenbei bemerkt. Also diese ganze Erkenntnis ist es nicht und kann es nicht sein, die so empörend wirkt. Und doch ist die Empörung wohl echt und wird weltweit verbreitet. Was ist gerade jetzt bedeutend daran? Die genannten angeblichen Übeltäter, bleiben wir bei Kissinger, an den erinnern sich manche noch, waren Elite und drückten sich gebildet aus. Trump sagte, was Kissinger gesagt hatte, aber er formulierte es in der Sprache der Prolls. Nicht wegen des Inhalts seiner Aussage, sondern wegen des Idioms einfacher Leute, der Sprache der „deplorables“ in den „fly-over-states“, diese waren von Trump auch mal Arschlochstaaten genannt worden. Eliten nennen diese Staaten nicht so, sie behandeln sie nur entsprechend. Wichtig ist hier der Unterschied in der Ausdrucksweise, nicht im Inhalt. Und diese Differenz bedeutet, Eliten haben noch immer eine Scheißangst vor dem Proletariat. Sie fürchten sich vor den normalen Leuten, die Trump anspricht. Noch immer wirft die Oktoberrevolution von 1917 einen gewaltigen Schatten über die entwickelte Welt. Es ist geschehen. „Duldet die Schmach nun länger nicht“, ist den Leibeigenen, Sklaven, auch Arbeitssklaven und Belogenen zugerufen worden! Sie haben die Stimme gehört. In der Erinnerung, wer weiß von wem, könnte sie Widerhall finden. Angst in den Redaktionen und Sendern, Angst! Aber doch nicht vor mir. Drücke ich mich denn nicht gebildet aus wie Hilary Clinton und keinesfalls wie Donald Trump? Das ist nicht mein Duktus. Michael Molsner

Samstag, 25. Januar 2025

Zurück in die Gotik

Heute früh hörte ich im Radio eine frische Frauenstimme berichten, sie habe aus einem dieser öffentlichen Gratisangebote ein Exemplar des Romans "Moby Dick" mitgenommen, weil sie das Buch noch nicht kannte, aber wusste, dass es sehr berühmt ist. Gleich der Anfang habe sie „gecatched“. Ich horchte auf. Weshalb hat der Anfang sie gefangen? Weil sie auch schon, wie Ismael, das Gefühl hatte, dass in ihrem Leben nichts mehr stimmt und nichts mehr geht wie geplant. Ismael heuert dann als Matrose an, die junge Frau hingegen... Hab nicht mehr mitbekommen, was sie dann tut. Im Anschluss habe ich überlegt, was mich aktuell abgelenkt hat von Zeitläuften, die ich nicht mehr ertrage. Bei einem Walfänger, wie Ismael, heuere ich nicht an, und als Panzerfahrer in die Ukraine melde ich mich auch nicht - das ist etwas für die Tapferen der vorletzten Generation, von mir aus gezählt. Was mich derzeit wieder einmal einfängt, ist ein Buch von Thomas Mann, das ich in viel zu jungen Jahren gelesen habe, als dass ich es damals verstanden hätte. Es ist das geschmähteste Buch des Kollegen. Er vermutet im Jahr 1917, dass die modernen Fortschrittler seiner Zeit ein klar formulierbares Ziel haben - das sie selbst nie eingestehen würden. Sie seien zutiefst bewegt von der Sehnsucht, weltweit ein neues Mittelalter heraufzuführen, eine Gotik diesseits von Renaissance, Reformation, Aufklärung. Man war geborgen im Haus des Glaubens. Niemand brauchte zu zweifeln, was wahr und richtig oder was "fake" und verboten sei. Man wusste und befolgte es. Das Risiko jeder Beurteilung fiel weg. Ich dachte bei mir: Das ist es, was derzeit anscheinend alle wollen, die bei uns für Entscheidungen zuständig waren, sind, sein werden. Menschenrechte sind nicht das Problem. Verlangt ist, dass sie jederzeit überall so ausgelegt werden, wie wir es für angemessen (und nützlich) halten. Wer daran zweifelt, landet wie im Mittelalter auf einem Holzstoß; ist zwar als Metapher zu verstehen, doch auch heutigentages und unter uns Wahlberechtigten kann Zweifel an der Rechtgläubigkeit zum (bürgerlichen) Tod führen. Mediale Hinrichtungen sind an der Tagesordnung, gelten als Ausweis der Seriosität. Öffentliche Zweifel sind nicht mehr zulässig. Wir dürfen über bestimmte Themen nicht anders sprechen, als uns durch Medien und Politik erlaubt ist. Versucht es und tragt die Folgen, wenn ihr euch sicher genug fühlt. Ich selbst bin zu alt, um noch Fahnen zu hissen. Michael Molsner

Donnerstag, 23. Januar 2025

Verrat am Kreuze

Das Kreuz verraten. Gestern der deutsch-französische Tag brachte die üblichen Leerformeln. Tatsächlich ist die Allianz immer wieder gescheitert und musste auch scheitern – der Grund ist einfach zu erkennen. Frankreich ist stolz auf seine Geschichte, ohne deren dunkle Seiten zu leugnen, ganz im Gegenteil. Wir Deutschen wollen unsere Geschichte in einem Welteinheitsbrei begraben. Es ist „Verrat am Kreuze“, schreibt Thomas Mann. Dieses Wort hat mich getroffen. Statt tausendjährige christliche Vergangenheit in unsere Zukunft hinein zu nehmen, erklären wir uns Deutsche zu Aufgeklärten. Aber es ist nicht wahr, dass wir diese Sorte Laizismus mit Frankreich teilen. Das Gegenteil ist richtiger. In großartigen Romanen und Filmen hat Frankreich sich zu seinen christlichen Monarchen und Kriegshelden bekannt. Frankreichs Stolz auf seine Geschichte ist so groß wie deutsches Bedürfnis, Schuld nur als bewältigte erinnern zu dürfen. Andere Völker und sogar Stämme sind stolz auf ihre besondere Geschichte. Erinnert sich jemand an die für mich kaum anschaubaren Filme, in denen US-Amerika den Vietnamkrieg und seine Folgen dargestellt hat? Es war ein fast schon verzweifelt wirkendes Bemühen um Wahrhaftigkeit. Es war die Auseinandersetzung mit einem verlorenen Krieg. Für Frankreichs Bewältigung, und es war eine, des Algerienkrieges, nenne ich einen Film von vielen: „Die Frau des Leuchtturmwärters“. Italiens Bewältigung des Faschismus, Filme wie „Heisser Sommer“ und die vielen Romane. Wir Deutschen haben uns nach dem verlorenen Krieg selbst leid getan. Wir waren nicht Täter, wir waren Opfer. Nicht Täter und Opfer. Nur Opfer. Als Beispiel „Der Stern von Afrika“. Und Böll? Ein armes Luder. Und Sissi, bis Romy es nicht mehr aushielt und sich nicht kaufen ließ. Das sind Allgemeinheiten, ich weiß, Gegenbeispiele können genannt werden. Heute nun gedenken wir der Befreiung von Auschwitz. Die Nachrichten, die mich erreicht haben, sind eingepackt in antirussische Propaganda. Das wird so bleiben. Deshalb vertraue ich westlichen Nachrichten nicht mehr. Statt dessen höre ich, passend zur Begleitung Thomas Manns, ungewohnte klassische Musik. Die Oistrachs, Guldenberg, in Moskau geboren und ausgebildet, das erinnert mich an Salka Viertels Familie. Alle ihre Angehörigen haben überlebt, weil sie unter Stalins Regierung rechtzeitig aus der Ukraine gerettet wurden. Gerettet vor uns – die wir jetzt die Leistungen der Roten Armee gar nicht genug zerreden können. Niemandem wird körperlich übel beim Gedanken daran, was wir den Russen wieder antun – nach allem, was wir ihnen schon angetan haben. Deutsche haben starke Mägen. Michael Molsner

Montag, 20. Januar 2025

Erstmals

Faschingsscherz? Bisher war mir völlig unbekannt, was die schweizer Weltwoche gestern mitteilte. Demnach habe die Gütersloherin Alice Weidel sechs Jahre in Peking gelebt und 2011 ihre Diplomarbeit über das chinesische Rentensystem geschrieben. Sie habe für die Bank of China gearbeitet und solle fließend Mandarin sprechen. Zuvor habe sie nach einem Wirtschaftsstudium Arbeitserfahrungen in den USA, Asien und Europa gesammelt. Kann das sein oder sitze ich einer Fehlinformation auf? In China soll die Co-Vorsitzende einer bei uns nicht koalitionsfähigen Partei Star-Status genießen und weithin bekannt und beliebt sein. Ich kann das alles kaum glauben, denn in unseren Medien habe ich davon bisher nichts erfahren.

Freitag, 17. Januar 2025

Verantwortlichkeit

Was ein Präfix ist, das habe ich grade noch gewusst. Mir war aufgefallen, wie eichhörnchenhaft behend ausgerechnet die sich als marxtreu bezeichnende „junge welt“ den Begriff Marxismus durch Präfixe zur Bedeutungslosigkeit verwischt. Meloni ist postfaschistisch, Elon Musk cryptofaschistisch, Alice Weidel neofaschistisch, - was noch, mir fällt nicht mehr alles ein. Aber nun habe ich mich im Fremdwörterlexikon umgesehen. Suffix bedeutet, zwei selbständige Wörter werden aneinander gereiht: Himmelreich. Pazifistenpöbel ist ein Suffix, Pazifistenmeute auch. Ein Infix ist es, wenn zwei selbständige Wörter durch einen eingefügten Buchstaben ergänzt werden: Kriegstreiber, Friedenswille, da ist es das „s“. Beides sind Afixe. Das ist der Oberbegriff. Meine Frau erinnert sich an ein Biologieseminar, wo sie eingeschärft bekam, dass Begriffe ohne Trennschärfe unter Wissenschaftlern verpönt sind. Weshalb will die „junge welt“ uns einreden, dass Faschismus alles bedeuten kann – also nichts bedeutet, außer „rechtskonservativ“. Und das wäre nicht schon das, was Faschismus war. Ohnehin scheint mir, dass nach den furchtbaren Greueln, die unsere deutsche Kopie des Italofaschismus angerichtet hat, der leichtfertige Umgang mit dem Begriff verharmlosend ist. In diese Richtung gehört auch der Vergleich deutscher Provinzpolitiker mit Hitler. Das ist nicht komisch, es ist – denke ich – unverantwortlich. Michael Molsner

Mittwoch, 15. Januar 2025

Wer sollte siegen?

Da Gewalt niemals ganz aus unserer menschlichen Welt verschwinden wird, stellt sich immer wieder die Frage nach deren Berechtigung. Zitat aus der schweizer Zeitschrift Die Weltwoche: „Entweder siegt Russland, oder die ganze Welt wird zerstört.“ So äußert sich ein russischer Moderator in einem Interview mit Chefredakteur Roger Köppel. Der Russe wird zitiert mit der Frage::Was sind eure Werte? Ihr seid keine Christen mehr. An was glaubt ihr? An Transgender-Götter?“ Dann wären wir Schamanisten. Es stellt sich in solchen Fällen stets die Frage der Beurteilung. Diese kann unter vernünftigen Menschen nur auf Daten basieren, die zuverlässig sind. Aber Kriegsparteien werden je ihre eigenen Daten bekannt geben. Dennoch kommen wir Normalbürger an Beurteilungen nicht vorbei. Es geht um Leben und Tod. Dabei mitsprechen zu wollen, hat Hannah Arendt gefordert. Mit der Einschränkung, wir müssten bei aller Bemühung dennoch gestehen , dass Irrtümer möglich sind. Auf dieser fb-Seite ist die Einschränkung nicht üblich. Was unsere Medien melden, wird akzeptiert. Es sei kein Frieden möglich, habe ich gelesen, „solange der Irre in Moskau am Rad dreht“. Die Auffassung des russischen Talkshow-Masters Solowjow in der Weltwoche Nr. 25 aus dem vorigen Jahr 2024 gilt bei uns als abwegig. Die Begründung ist klar: Die Armee Russlands sei in die Ukraine einmarschiert. Dass sowohl kluge Russen wie gescheite westliche Völkerrechtler die Meinung vertreten, die Invasion „Putins“ kein kein Bruch des Völkerrechts, ist seit langem bekannt. Auch erfahrene Politiker wie Oskar Lafontaine haben jetzt erklärt, erstens zeuge diese Behauptung von Doppelmoral, zweitens sei sie falsch. Das sind unleugbare Widersprüche. Sie könnten auf Denkfehlern beruhen. Da es um Tod oder Leben geht, müssen wir am 23. Februar wissen, wo wir unser Kreuzchen setzen. Es gibt Parteien, die leidenschaftlich einen siegreichen Krieg gegen Russland fordern. In der üblichen Formulierung bedeutet das: Unterstützen wir die tapferen Ukrainer bei ihrem mutigen Abwehrkampf gegen die brutalen Angriffe der Russen. Ob wir die Russen bei ihrer Abwehr der NATO unterstützen, fragt wohl niemand bei uns. Wir überlassen solch gewagte Fragen anderen, vor allem US-Amerikanern – die dafür keinerlei Applaus erwarten dürfen. Michael Molsner