Sonntag, 13. Februar 2022

"Muss wech"

„Muss wech“. Unter diesem Titel wurde neulich auf die Tatsache reagiert, dass ein früherer Vorsitzender der SPD und Kanzler der Bundesrepublik Deutschland auf einer Liste von Kandidaten steht, die im Juni für den Aufsichtsrat von Gazprom gewählt werden könnten. Parteiausschluss sei noch das mindeste, was zu verlangen sei, ein Entzug der Staatsbürgerschaft jedenfalls zu erwägen. Nun lese ich vor zwei Tagen in der Frankfurter Allgemeinen auf Seite 20, dass der Präsident der russisch-italienischen Handelskammer für den Aufsichtsrat seiner in Moskau ansässigen Unternehmensgruppe den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi gewann. Auch Matteo Renzi muss daher wohl „wech“, Staatsbürgerschaft und Parteizugehörigkeit sind ihm zu entziehen. Ist für jeden Italiener das mindeste bzw. zu erwägen. Und selbstverständlich „schämt“ man sich für beide. Zu unterstellen ist ihnen amoralische Anstandsferne und widerwärtige Geldgier. Dass die jeweiligen Unternehmen an der Kompetenz der Erwähnten interessiert sein könnten, brauchen wir nicht zu berücksichtigen. Mir fiel zu „Muss wech“ nachträglich der Fall Oskar Maria Graf ein. Als er seinen Namen auf einer Liste der von den Nazis verbotenen Bücher nicht entdeckte, protestierte er wütend. Es sei eine Ehrenliste. Er wurde wunschgemäß ausgebürgert, seine Bücher erschienen auf sämtlichen schwarzen Listen, das Deutsche Volk schämte sich für ihn. Konkret bedeutete das zunächst, er konnte seinen Geburtsort Berg am Starnberger See nicht mehr besuchen, das geliebte Münchener Hofbräuhaus genauso wenig, und auch für das heißest geliebte Münchener Künstlerviertel Schwabing galt nun: Betreten lebensgefährlich. New York und die US-Staatsbürgerschaft retteten ihn und seine im Deutschen Reich verbotenen und in Berlin verbrannten Werke. Nach dem Krieg die Wende! Plötzlich und unerwartet ehrte ihn das deutsche Volk in West und Ost mit Auszeichnungen. Er habe richtig entschieden, hieß es nun. Man müsse sich nicht für ihn schämen. Im Gegenteil, wir alle dürften stolz auf ihn sein. Wenn ich nun darum bitte, dass die „Muss-wecher“ mich, wie es einst O.M.G. widerfuhr, auf die Ehrenliste der Auszubürgernden setzen, dann tue ich das nicht für aktuelle Vorteile. Es wird mich nicht zurück in die Feuilletons der Sender und Printmedien bringen, wo ich einst lobend genannt wurde. Das ist vorbei. Aber die Nachwelt, die Nachwelt!

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