Samstag, 12. September 2020
Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist
Flammen auf Lesbos!
Wer lange in München gelebt hat, wird die Verse unter den Arkaden des Hofgartens
nicht vergessen haben.
„Reiterscharen sagen die einen, Fußvolk
andre, Schiffe seien der dunklen Erde
schönstes Gut. Ich aber sage, was die
Liebe begehrt, ists.“ Sappho. Oder:
„Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinen
Ufern wieder die Schiffe den Lauf? Umatmen erwünschte
Lüfte dir die beruhigte Flut, und sonnet der Delphin,
Aus der Tiefe gelockt, am neuen Lichte den Rücken?
Blüht Ionien? ists die Zeit?“ Hölderlin.
Als ich mit meiner Frau Mythilene besuchte, wo Sappho um 600 vor Christus auf der Insel Lesbos gelebt hat, tauchten wir dankbar ein in den Duft eines kulturellen Erbes, das wir auch als unseres empfanden. Am Strand von Skala Eresou im Westen der Insel glaubten wir, im Rauschen anrollender Brandung die Hexameter erst richtig zu würdigen, mit denen die Odyssee in der deutschen Klassik eingemeindet wurde. Es sind feierliche Augenblicke von Erfüllung, „wenn das Meer wirklich und wahrhaftig weinrot ist, wie der alte Homer sagt“ (Hannah Arendt). In einem Brief an ihren Mann in New York zitiert sie am 14. Oktober 1955 falsch, weil aus dem Gedächtnis, „Wer von der Schönsten zu scheiden verdammt ist“ – und war sicher, dass ihr Mann die Verse Gothes erkennen würde. „Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,/Fliehe mit abgewendetem Blick!/Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,/Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück!“
Die Nachrichten von Lesbos haben uns seit Jahren beunruhigt, die Situation dort ist ja nicht neu. Wir verfolgten die stets vehementeren Absichtserklärungen der EU und verglichen sie mit den tatsächlichen Vorgängen in Griechenland, vor allem im Athener Hafen, den wir kennengelernt hatten – als Ansammlung veralteter und vernachlässigter Docks. Der Hafen ist durch chinesische Übernahmen inzwischen zum – ich glaube: zweitgrößen europäischen Hafen nach Rotterdam und vor Hamburg geworden. Das Umfeld ist aufgeblüht, kleine Hafenkneipen und größere Zulieferer verdienen wieder gutes Geld.
Wir haben begriffen, was vorging, denn wir in Duisburg und im weiten Umfeld erleben das auch. Unser Binnenhafen mit neuerdings 60 Eisenbahnzügen pro Woche von Duisburg nach China ist zum wichtigsten Motor der Umstrukturierung unserer vormaligen Schwerindustrie geworden. Duisburg-Stadt soll digitalisierte Smart City werden. Warum eigentlich nicht?
Zu einseitiger Abhängigkeit muss es nicht führen. Das hat Österreichs Regierung vorgemacht. Als der einzige innereuropäische Hersteller von Penicillin schließen wollte, hat Österreichs Wirtschaftsministerin das im vergangenen Mai verhindert und 50 Millionen Euro ins Aussicht gestellt, falls der Standort in Europa verbleibt. „Antibiotika sind das Rückgrat moderner Medizin, und unser Werk in Kundl in Österreich ist die letzte verbliebene voll integrierte Antibiotikaproduktion in der westlichen Welt“, heißt es in der Pressemeldung zum Verbleib der Produktion in Tirol. Ein gemeinsames Investitionsvorhaben soll dazu beitragen, dass dies auch so bleibt. Es umfasst 150 Millionen Euro. Nicht mehr? Nur darum ging es?
Nachhaltige Hilfe, auch wenn globale Lieferketten bedroht oder gekappt wären, kann also sichergestellt werden – und kostet nicht einmal die Welt. Schwierig werden die Dinge, weil geglaubt wird, es könne wohl doch die Welt kosten. Deshalb werden wir davor gewarnt, uns von China helfen zu lassen. „It’s geopolitics, stupid“, könnte Bill Clintons alte Weisheit variiert werden.
Bei Minsk (in Weißrussland!) ist eine riesige Umladestation teils schon geschaffen, teils unter Beteiligung internationaler Firmen geplant und finanziert; die Bahnlinie führt durch den chinesischen Teil von Kasachstan (bewohnt von teils strenggläubigen moslemischen Uiguren!). Deshalb sind diese Regionen so vehement aufgerufen, sich genauester Kontrollen durch die USA und ihrer Verbündeten zu fügen. Bedenken wir überdies, dass die Schienenverbindung von Duisburg nach Shenzhen (auf dem chinesischen Festland-Sockel nicht weit von Hongkong) führt, so wird verständlich, dass jugendliche Unzufriedene dort bei allen Freunden Washingtons als Vorkämpfer der Demokratie gefeiert werden.
Und unser Lesbos brennt.
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