Sonntag, 25. Dezember 2016

Achtundzwanzigster Brief - Heilige Nacht? Was wir glauben. Und was nicht. Und was das mit Kriminalromanen zu tun hat.


Gläubige haben in Auschwitz der SS standgehalten, erinnert sich der jüdischstämmige österreichische Schriftsteller Jean Améry in seinem bedeutenden Essay "An den Grenzen des Geistes". Wer an Gott glaubte oder an den Sieg des Sozialismus, fühlte sich durch die Unmenschlichkeit sogar noch in seiner längst gefestigten Überzeugung bestätigt. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium müsse zur Entmenschung notwendig führen, hatten die Marxisten schon in den Weimarer Jahren gewarnt. Gottgläubige waren angesichts zunehmender Gottlosigkeit auf moralische Verkommenheit und Verrohung vorbereitet.
   Intellektuelle hingegen seien zerbrochen, schreibt Améry. Er meint auch sich selbst. Der philosophisch geschulte Agnostiker erblickte im SS-Staat die Verwirklichung einer Idee, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Sein Humanismus zählte nicht mehr. Als Wehrloser wurde er sich selbst verächtlich.
   Nach der Befreiung quälten ihn "Ressentiments" - so der Titel eines zweiten bedeutenden Essays. Er verachtete die Täter, sie inszenierten sich als Opfer von Befehlsnotständen.
   Auch ich verachtete sie. Dabei machte ich eine Entdeckung. Ich hätte gern Rache genommen. Die unschuldig tuenden Täter hatten meiner Generation dieses furchtbare Erbe hinterlassen, diese entsetzliche Schuld. Ganz und gar stimmte ich Ravic in Remarques Roman „Arc de Triomphe“ zu, der seinen ehemaligen KZ-Quäler umbringt.
   Ich fand also einen Mörder in mir vor. Das war kein Ravic, der den Schinder erschießt. Ich hatte ja keine Schusswaffe.
   Meine Waffe war das geschriebene Wort.
   In meinen ersten Kriminalroman habe ich einen Mörder eingebracht, der als Opfer posiert. Scheinheilige Killer kannte ich zur Genüge. Aus der Universität, wo sie Vorlesungen hielten. Aus Redaktionen und Verlagen, wo sie meine Vorgesetzten waren.
   Aber es war ein Haken dabei. Literatur, wenn  sie ehrlich ist, zwingt zur Selbsterkenntnis. Davor darf der Autor sich nicht drücken. Ich musste selbst einen Mörder in mir haben, begriff ich, wie ich sie in meiner gesellschaftlichen Umgebung so oft vorgefunden habe. Ich hätte den Widerling sonst nicht in diesen Kriminalroman auslagern können.
    Dass ich ihn auslagern konnte, den larmoyanten Unhold, war ein erster Schritt auf der langen Straße zur Befreiung von dem Bedürfnis nach blutiger Rache. Die Kämpfer der Roten Armee Fraktion sind diesem Bedürfnis erlegen.
   Jean Améry ist seinen Ressentiments erlegen. Er war zu vernünftig, um sich von blutigen Rachefeldzügen anderes zu versprechen als nur die Verdoppelung nazihafter Verrohung. Ausdrücklich warnte er vor Aktionen wie denen der RAF.
   Was aber tun, wie sich helfen? Verachtung für die Schergen, die ihn gequält hatten, empfand er wie so viele meiner Generation der Achtundsechziger. Doch eben diese Schergen waren nun seine Gönner! In großen Sendern und bedeutenden Zeitschriften konnte er veröffentlichen, was ihn beschäftigte. Sollte er einen Hans Egon Holthusen öffentlich demütigen, weil der sich zur SS bekannt hatte, deren Mitglied er gewesen war? Holthusen war nun Präsident der Bayerischen Akademie der Künste und überreichte Jean Améry eine Auszeichnung. Auch Geld floss.
   Hätte Améry ablehnen sollen? Er hat es, weshalb auch immer, nicht über sich gebracht. Dabei hatte Holthusen einen wüsten Hetzartikel gegen Thomas Mann veröffentlicht. Und Améry hat Thomas Mann höher geschätzt als jeden anderen modernen Autor. Dennoch, er nahm den Preis aus Holthusens Hand entgegen ... Und seine Ressentiments wurden  immer unerträglicher.  Weshalb ließ er das zu?  
   Seine Vernunft warnte ihn vor einem drastischen Schritt, wie übrigens Mascha Kaléko ihn getan hat, die Lyrikerin. Sie hat von einem SS-Mann keinen Preis haben wollen.
   Améry war bei seinen Begegnungen mit Schergen, die ihn nun nicht mehr in die Gaskammer schicken, sondern auszeichnen wollten, etwas bewusst geworden. Er selbst hatte einen Mörder in sich. Einen Rächer. Doch seine Vernunft stoppte jede Regung dieser Art und erstickte sie förmlich in ihm.
    Als Autor darf ich meine Phantasie spielen lassen. Ich stelle mir vor, ich hätte mit Améry sprechen können.
   Machen Sie es wie ich, hätte ich ihm geraten. Schildern Sie einen Unhold, wie Sie ihn zuerst in Auschwitz und später erleben mussten, in einem Kriminalroman! Stellen Sie den Unhold von sich weg, indem Sie ihn zu Papier bringen!
   Und was ist der Unterschied zwischen einem Roman und einem Kriminalroman?, fragt er.
   Das ist typisch für ihn, den analysierenden Rationalisten und Positivisten.
   Für mich ist es eine Steilvorlage.
   Gehen Sie in eine Buchhandlung und fragen Sie nach einem Kriminalroman, sage ich. Man wird Sie zu einem Regal führen. Aber fragen Sie nicht danach, wie ein Kriminalroman definiert wird. Denn das kann niemand. Es führt zu einer Dekonstruktion. Am Ende landen Sie dabei, dass Kriminalgeschichten bereits in er Bibel stehen. Aber niemand, der einen Kriminalroman verlangt, bekommt im Buchladen eine Bibel in die Hand gedrückt. Denn was ein Kriminalroman ist, erfährt man nicht durch analytische Dekonstruktion, man weiß es aus Erfahrung.
   Es ist wie mit der Liebe, fahre ich fort. Dekonstruktion führt zu der Schlussfolgerung, Liebe sei eine unterbewusste Neurose, die sich zu einer anderen unterbewussten Neurose hingezogen fühlt – unterbewusst. So in einem wunderbaren Film, wo es als Witz gemeint ist.
   Erlauben Sie niemals, lieber Jean, spreche ich weiter – erlauben Sie niemals Ihrer Vernunft, Ihre Erfahrungen zu entwerten. Das ist Hamlets Krankheit!
    Leider hat das Gespräch nie stattgefunden. Améry blieb dabei, seine Ressentiments auf rationalem Wege auflösen, das heißt: wegdenken zu wollen.    
    Hätte er einen verhassten Unhold in sich selbst eingestehen müssen, um ihn literarisch darzustellen?
   Aber das ist Spekulation. Tatsache ist leider, dass der große Kollege sich vergiftet hat.
   Gläubige, hinterlässt er uns, waren sogar dem extremen Terror in Auschwitz gewachsen. Sie sind von einer Zukunft überzeugt, sei sie irdisch oder überirdisch.
  Intellektuelle nicht. Sie zerbrechen an der Gegenwart.


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