Dienstag, 29. November 2016

Sechsundzwanzigster Brief

Ver-rückte Welt

(Zivil-)Religiöser Fanatismus war das Thema eines Vortrags von Theologieprofessor Rolf Schieder an der Universität Konstanz im Jahr 2013; der Vortrag ist jetzt im Rahmen der Reihe Tele-Akademie mehrmals wiederholt worden, vermutlich seiner Aktualität wegen.
Schieder fragte nach dem spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens. Das Problem stelle sich immer dann, wenn Särge aus Afghanistan zurück kommen, meinte er.  Wofür, frage man, hat dieser junge Mensch sein Leben geopfert? Wie legitimieren wir unseren  Anspruch, dieses letzte und höchste Opfer zu fordern?
Schieder bereitet eine Problemanzeige vor.
Er befürchtet, dass wir an einer negativen Selbstbeschreibung unserer „Werte“ festhalten. In USA sei das anders … Und nicht nur dort, füge ich hinzu. In Großbritannien definiert man seinen spirituellen Kern, seine Grundwerte,  für die es sich lohnt, sein Leben zu opfern, seit der Bill of Rights als das Recht auf Schutz der Privatsphäre auch gegenüber dem König, heute dem Staat; in USA an unwiderrufbaren Rechten, mit denen laut Thomas Jeffersons Formulierung in der Erklärung der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien alle Menschen ausgestattet sind, und zwar von ihrem Schöpfer, der über weltlichen Mächten steht; und in Frankreich an der Aufklärung und ihren politischen Konsequenzen.
Nicht so bei uns. Wir Deutschen binden den spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens nicht an ein affirmatives, sondern an ein negatives Narrativ: an die Shoa.
Während ein Brite, ein US-Amerikaner, ein Franzose zu dem, was im Freiheitskampf gegen Obrigkeiten geleistet wurde, voller Stolz erklärt: Immer wieder!, sagen wir Deutschen: Nie wieder. Nie wieder Antisemitismus.
Man braucht dieses Wort nur auszusprechen, schon schlagen einem Wellen öffentlicher Erregung entgegen, führt Schieder aus und nennt Beispiele. Martin Walser, Günter Grass, Jakob Augstein sei Antisemitismus vorgeworfen worden, nachdem sie Zweifel am Gebrauch oder Missbrauch der Formel angemeldet hatten! Schieder spricht von einem Exkommunikationsbegriff (er ist Theologe) und fühlt sich an die Inquisition erinnert: Wer Glaubenszweifel äußert, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – ja auch schon jeder, dem der Tabubruch unterstellt wird, sei in Gefahr der Exkommunikation!
Hier möchte ich in meiner Zusammenfassung des Vortrags kurz innehalten und daran erinnern, dass der Vortrag 2013 gehalten worden ist! Inzwischen gibt es weitere Tabus. Der Begriff Nazi ist dazugekommen. Nationalsozialistischer Gesinnung oder Tendenzen machen sich Parteien verdächtig, deren demokratische Verdienste seit Jahrzehnten bewährt sind, wie die CSU; demokratisch noch wenig bewährte Gruppierungen werden als Nazi bezeichnet, wenn ihre Ziele denen der CSU vergleichbar sind, und zwar auch dann, wenn der Verfassungsschutz ihre Beobachtung ablehnt.
Um auf Schieder zurückzukommen: Er sagt, wir seien sehr gut darin, uns der toten Juden zu erinnern, doch verkrampft im Umgang mit den heute lebenden Juden.
Ich möchte das im Licht der inzwischen verflossenen drei Jahre erweitern und ergänzen: Wir sind gut darin, uns der Abschaffung unserer Demokratie voller Schrecken zu erinnern. Aber verkrampft im Ungang mit den aktuellen Gefahren für unsere Demokratie.
Gutwillige Deutsche merken nicht, dass sie in einer ver-rückten Welt leben. In einer Welt, die weggerückt ist aus der Gegenwart und ver-rückt in die Jahre 1922-33. Sie meinen, Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus heute – jetzt – bekämpfen zu müssen, obgleich unsere wehrhafte Demokratie Nazis staatspolizeilich verfolgt und unser Rechtssystem ihre Ideologie und Symbole verbietet.
Freilich gibt es Rechtsbrecher. Auch solche, die sich juristischer und polizeilicher Verfolgung zu entziehen verstehen. Einbrecherbanden, die schwer zu fassen sind. Autodiebe, die sich nach Polen absetzen. Gegen sie zu demonstrieren ist noch niemand eingefallen, man fordert allenfalls bessere Polizeiarbeit.
Wir sollten – sagt Schieder – uns zur Shoa endlich ein historisch-kritisches Bewusstsein erlauben. Ich meine, nicht nur zu Shoa, auch zum ideologisch vagen Begriff nationalsozialistischer Tendenzen. Sie einem Horst Seehofer zu unterstellen, wie es Medien tun, die sich in demokratischer Rechtgläubigkeit behaglich einrichten, erschüttert das Vertrauen in diese Medien. Niemand glaubt ihnen mehr. Wer lange in Bayern gelebt hat, wie ich, und dort politisch tätig war, und zwar in Opposition zur CSU, kann nur den Kopf schütteln. Man spricht dann von Lügen-Medien.
Mit Exkommunikationsformeln, Moralkeulen und inquisitorischen Methoden wird unser Gemeinwesen nicht gestärkt, es wird untergraben.
Ver-rückte Welt.


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