Ver-rückte Welt
(Zivil-)Religiöser Fanatismus war
das Thema eines Vortrags von Theologieprofessor Rolf Schieder an der
Universität Konstanz im Jahr 2013; der Vortrag ist jetzt im Rahmen der Reihe
Tele-Akademie mehrmals wiederholt worden, vermutlich seiner Aktualität wegen.
Schieder fragte nach dem
spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens. Das Problem stelle sich
immer dann, wenn Särge aus Afghanistan zurück kommen, meinte er. Wofür, frage man, hat dieser junge Mensch
sein Leben geopfert? Wie legitimieren wir unseren Anspruch, dieses letzte und höchste Opfer zu
fordern?
Schieder bereitet eine
Problemanzeige vor.
Er befürchtet, dass wir an einer
negativen Selbstbeschreibung unserer „Werte“ festhalten. In USA sei das anders
… Und nicht nur dort, füge ich hinzu. In Großbritannien definiert man seinen
spirituellen Kern, seine Grundwerte, für
die es sich lohnt, sein Leben zu opfern, seit der Bill of Rights als das Recht auf
Schutz der Privatsphäre auch gegenüber dem König, heute dem Staat; in USA an unwiderrufbaren
Rechten, mit denen laut Thomas Jeffersons Formulierung in der Erklärung der
Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien alle Menschen ausgestattet sind, und
zwar von ihrem Schöpfer, der über weltlichen Mächten steht; und in Frankreich
an der Aufklärung und ihren politischen Konsequenzen.
Nicht so bei uns. Wir Deutschen binden
den spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens nicht an ein
affirmatives, sondern an ein negatives Narrativ: an die Shoa.
Während ein Brite, ein
US-Amerikaner, ein Franzose zu dem, was im Freiheitskampf gegen Obrigkeiten
geleistet wurde, voller Stolz erklärt: Immer wieder!, sagen wir Deutschen: Nie
wieder. Nie wieder Antisemitismus.
Man braucht dieses Wort nur auszusprechen,
schon schlagen einem Wellen öffentlicher Erregung entgegen, führt Schieder aus
und nennt Beispiele. Martin Walser, Günter Grass, Jakob Augstein sei
Antisemitismus vorgeworfen worden, nachdem sie Zweifel am Gebrauch oder
Missbrauch der Formel angemeldet hatten! Schieder spricht von einem Exkommunikationsbegriff
(er ist Theologe) und fühlt sich an die Inquisition erinnert: Wer
Glaubenszweifel äußert, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – ja auch
schon jeder, dem der Tabubruch unterstellt wird, sei in Gefahr der
Exkommunikation!
Hier möchte ich in meiner
Zusammenfassung des Vortrags kurz innehalten und daran erinnern, dass der
Vortrag 2013 gehalten worden ist! Inzwischen gibt es weitere Tabus. Der Begriff
Nazi ist dazugekommen. Nationalsozialistischer Gesinnung oder Tendenzen machen
sich Parteien verdächtig, deren demokratische Verdienste seit Jahrzehnten
bewährt sind, wie die CSU; demokratisch noch wenig bewährte Gruppierungen
werden als Nazi bezeichnet, wenn ihre Ziele denen der CSU vergleichbar sind,
und zwar auch dann, wenn der Verfassungsschutz ihre Beobachtung ablehnt.
Um auf Schieder zurückzukommen:
Er sagt, wir seien sehr gut darin, uns der toten Juden zu erinnern, doch
verkrampft im Umgang mit den heute lebenden Juden.
Ich möchte das im Licht der
inzwischen verflossenen drei Jahre erweitern und ergänzen: Wir sind gut darin,
uns der Abschaffung unserer Demokratie voller Schrecken zu erinnern. Aber
verkrampft im Ungang mit den aktuellen Gefahren für unsere Demokratie.
Gutwillige Deutsche merken
nicht, dass sie in einer ver-rückten Welt leben. In einer Welt, die weggerückt
ist aus der Gegenwart und ver-rückt in die Jahre 1922-33. Sie meinen,
Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus heute – jetzt – bekämpfen
zu müssen, obgleich unsere wehrhafte Demokratie Nazis staatspolizeilich verfolgt
und unser Rechtssystem ihre Ideologie und Symbole verbietet.
Freilich gibt es Rechtsbrecher.
Auch solche, die sich juristischer und polizeilicher Verfolgung zu entziehen
verstehen. Einbrecherbanden, die schwer zu fassen sind. Autodiebe, die sich nach
Polen absetzen. Gegen sie zu demonstrieren ist noch niemand eingefallen, man
fordert allenfalls bessere Polizeiarbeit.
Wir sollten – sagt Schieder –
uns zur Shoa endlich ein historisch-kritisches Bewusstsein erlauben. Ich meine,
nicht nur zu Shoa, auch zum ideologisch vagen Begriff nationalsozialistischer
Tendenzen. Sie einem Horst Seehofer zu unterstellen, wie es Medien tun, die
sich in demokratischer Rechtgläubigkeit behaglich einrichten, erschüttert das
Vertrauen in diese Medien. Niemand glaubt ihnen mehr. Wer lange in Bayern
gelebt hat, wie ich, und dort politisch tätig war, und zwar in Opposition zur
CSU, kann nur den Kopf schütteln. Man spricht dann von Lügen-Medien.
Mit Exkommunikationsformeln,
Moralkeulen und inquisitorischen Methoden wird unser Gemeinwesen nicht
gestärkt, es wird untergraben.
Ver-rückte Welt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen