Sonntag, 14. August 2016

Neunzehnter Brief

Der andere Abschied vom Mississippi - diesen Titel hatte ich ursprünglich für meinen dritten Kriminalroman vorgesehen, den Rowohlt als "zu marxistisch" abgelehnt hat und der dann im Fischer Verlag unter dem Titel Rote Messe erschienen ist, wo er kürzlich neu aufgelegt wurde.
Anscheinend rundet sich meine literarische Laufbahn, denn auf diesen alten Titel komme ich jetzt zurück, um eine neue Erzählung zu skizzieren. Sie wird eine überraschende Erklärung für die Staatskrisen bieten, die wir seit nun schon vielen Jahren im Süden und Südosten erleben.
Das Material meiner neuen Story beziehe ich aus vier Informationsquellen. Genauer, ich stütze mich auf Äußerungen von zwei Investment-Experten, die sich in der allmorgendlichen press review des BBC London geäußert haben, ferner auf einen Finanz-und Wirtschaftsexperten, den ich in einer Fernsehsendung der deutschen Teleakademie hörte, sowie einen deutschen Experten für die Entwicklungsprobleme von emerging economies. 

Zuerst einer der Londoner Investment-Berater. Er sagte: "There are now dozens of trillions of dollars floating around the globe looking for a home." Zu deutsch: Derzeit fließen Dutzende von Billionen Dollar um den Globus und schauen nach einer Heimat aus; gemeint ist, dass sie nach einer profitablen Anlagemöglichkeit Ausschau halten.
Denn Kapital ist nicht daran interessiert, Maschinen oder Lebensmittel oder Handys zu produzieren, oder was wir sonst benötigen. Kapital will Gewinn produzieren. Das lerne ich aus Statistiken, die der Finanzexperte der Teleakademie vorgestellt hat. Demnach ist es nicht mehr besonders profitabel, in irgendwelche Produkte zu investieren, die wir kaufen können. Die Produktion von Autos, Agrarerzeugnissen oder auch Elektronik wirft seit vielen Jahren immer weniger Gewinn ab und ist daher für Kapitaleigner unattraktiv.
Daher haben die Verwalter großer Kapitalien - um den Kreislauf des Geldes aufrecht zu erhalten - neue Produkte erfunden. Es sind Finanzprodukte, sogenannte Derivate. Indem zum Beispiel alte Schulden zu "Paketen" zusammengefügt und als risikolos bewertet wurden, konnten sie mit hohem Gewinn verkauft und wiederverkauft werden.
Ohne dass ich im Einzelnen ausführe, was der Experte alles an fiktiven oder sogenannten Buchwerten aufgezählt hat, die gehandelt worden sind, fasse ich seine wesentliche Schlussfolgerung zusammen: Es ist irreführend, von einer Fehlentwicklung des Kapitalismus zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um die logische und zwangsläufige Folgerung großer Kapitaleigner aus der Tatsache, dass Investitionen in die Realwirtschaft sich nicht mehr lohnen.
Es ist auch unsinnig, ständig - wie wir es erleben - von notwendigen Investitionen in die Infrastruktur zu reden. Niemand will in den Bau von Brücken, Straßen, elektrischen Leitungen oder die Wasserversorgung investieren, es lohnt sich nicht. Es lohnt sich deshalb nicht, weil derartige Projekte durch Ausschreibung an den billigsten Anbieter vergeben werden, und dieser ist deshalb preiswert, weil er kaum Gewinn macht oder es auf Kosten der Qualität tut. Staatsinvestitionen aber sind undenkbar, wenn die Staaten bereits hoch- und höchstverschuldet sind, wie etwa Japan, USA, Italien, Griechenland undsoweiter undsoweiter.
Andererseits aber war die Regulierung von Finanzgeschäften nicht zu vermeiden, da die um den Globus fließende Geldmenge von der Politik als bedrohlich erkannt wurde.

Ich komme zum zweiten Investmentexperten, den ich in der press review des BBC hörte. Jemand müsse ihm mal erklären, sagte er, weshalb eine lange Kolonne von Kämpfern des Islamischen Staates vom Irak aus durch hunderte Kilometer Wüste in Richtung der syrischen Stadt Palmyra ziehen konnte, ohne von der US Air Force bombardiert zu werden. Es seien hochmoderne Kampfwagen amerikanischer Produktion unterwegs gewesen, die bei der Eroberung von Mossul in die Hände des IS gefallen seien. Raketenwerfer, bazookas, viel allermodernstes Kampfgerät. Es zu zerstören, sei in der platten Wüste bei klarem Himmel leicht möglich gewesen. Warum also sei es nicht geschehen?
Die Frage wurde gestellt, aber nicht beantwortet.
Eine Antwort erfinde ich nun nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Denn manchmal, sagt der große Kriminalschriftsteller Raymond Chandler, ist ein Beweis nichts weiter als eine überwältigende Wahrscheinlichkeit. Also dann: Die Amerikaner haben die Kampfkolonne deshalb geschont, weil die Beseitigung des syrischen Präsidenten Assad durch den IS erwünscht war.

Der Mittlere Osten bis hinunter in den Kongo - also ganz Nordafrika - wäre eine hochinteressante neue Heimat für die um den Globus fließenden Dutzenden von Billionen Dollar. Palmyra wurde geopfert, weil die westlichen Politiker es nach jahrelanger Bombardierung der syrischen Infrastruktur noch immer nicht geschafft hatten, Präsident Assad durch einen genehmeren Machthaber, wie in der Ukraine durch einen Poroschenko oder Jazenjuk, zu ersetzen.
Wem gaben und geben sie die Schuld? Dem "Kriegsherrn Putin" (wie die BILD-Zeitung gestern erst, am 13.08. 2016, leitartikelte. Nur durch dessen zynische Geostrategie, als befehle er einer Großmacht, habe Assad sich halten können. Dabei stehe Putins Macht auf den tönernen Füßen einer maroden Wirtschaft, die nur gesunden könne, wenn Russland wieder demokratisch regiert und freier Kapitalverkehr garantiert werde.

Damit komme ich zu meiner vierten Informationsquelle, einem angesehenen Fachmann, er war Jahrzehnte im Bundesministerium für Entwicklungshilfe tätig. Er weist darauf hin, dass freier Kapitalverkehr nur diejenigen Ökonomien vorwärts gebracht hat, die bereits industrialisiert waren. Sogenannte Entwicklungsländer werden durch freie Kapitalflüsse zerstört. Nicht die Freiheit von Kapital sei erforderlich für die Entwicklung von emerging economies, sondern Rechtssicherheit bei möglichster Bekämpfung von Korruption, damit heimisches Kapital nicht auf ausländische Konten abfließt, sondern kluges Investment in einheimische Produktionen sowohl des Agrar- wie des industriellen Bereichs erfolgen kann. Dies solange, bis Wettbewerbsfähigkeit mit dem Ausland erreicht sei.
Als Erfolgsmodell nennt der Experte China, als Misserfolgsmodelle etliche afrikanische Staaten, deren einheimische Bauern, Handwerksbetriebe und Manufakturen durch Öffnung der Grenzen zerstört wurden.     

Die Folgerung liegt auf der Hand. Für die um den Globus fließenden heimatlosen Dollarbillionen muss Nordafrika als Investstitionsraum geöffnet werden. Gelingt es nicht, oder nicht schnell genug, muss Russland mit einer neuen Regierung versehen werden; nur dann können auch die chaotischen Verhältnisse in der Ukraine endlich bereinigt werden.

Eine neue Regierung oder "administration" wird sich zwischen November, wenn der US-Präsident gewählt wird, und dem Januar nächsten Jahres, wenn er sein Amt antritt, mit dem Problem befassen. Noch viele Millionen Menschen mehr als bisher schon könnten heimatlos werden, wenn für Dutzende von Billionen Dollar neue Heimat geschaffen wird.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen