Dienstag, 10. Januar 2023
Signale
Gestern noch mal daran gedacht, dass Benedikt gelehrt hat, überlieferte Texte zu durchdenken. Etwa das Vaterunser. „Unser täglich Brot gib uns heute“. Kann unser körperliches Dasein nicht gesichert werden, so ist auch die Psyche gefährdet, der weitere zwei Empfehlungen gelten: „Und vergib uns unsere Schuld“, damit wir uns nicht ständig mit den Fehlern abquälen, die wir gemacht haben mögen. „Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Nicht nur an eigenem Unrecht sollen wir uns festklammern, auch nicht an dem, was uns angetan wurde. „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“, an unserer Fähigkeit zum Neuanfang zu zweifeln. „Sondern erlöse uns von dem Übel“, eine besonders interessante, weil offene Bitte. Jedem Betenden steht es frei, an das bestimmte Übel zu denken, das ihn besonders bedrückt.
Dieses Gebet, das Jesus selbst so formuliert haben soll, empfiehlt zu Beginn die Heiligung Gottes. Gemeint ist der Schöpfer, auf den Thomas Jefferson sich beruft: „Wir halten diese Wahrheiten für gegeben, dass alle Menschen gleich geboren sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit unbestreitbaren Rechten ausgestattet sind“ – so erklärt er, weshalb die amerikanischen Kolonien sich vom britischen Königreich lösen dürfen. Das Recht dazu hat ihnen die Instanz gegeben, die noch über dem König steht.
In dem wohl bekanntesten Arbeiterlied heißt es: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun. Völker, hört die Signale!“
Dass die Durchsetzung von Unabhängigkeit erkämpft werden muss, wusste auch Jefferson. Er erwartete sie nicht als Gottesgeschenk. Ebenso hatte er erkannt, dass Unmöglichkeiten zu vermeiden waren. Die Sklaverei abzuschaffen, gelang erst hundert Jahre danach. Und dennoch war Menschenrecht nun erkannt und durch allerhöchste Instanz verbürgt.
Die Abschaffung von Gottesglauben ist ein Kennzeichen der Vorbereitung und Durchsetzung von Imperialismus, schreibt Hannah Arendt. In Lateinamerika, Afrika, Asien, dem Mittleren Osten, überall in verwüsteten Regionen, wo unsere Politik Standarten aufpflanzt, wird die Botschaft vernommen. Die Signale sind weltweit unüberhörbar.
Sonntag, 1. Januar 2023
Benedikt
Danke für vielerlei
Als die Krankheit Benedikts gemeldet wurde, fiel mir spontan ein sehr kleiner Text von ihm ein, der mich besonders tief beeindruckt hatte. Eine theologische Skizze von wenigen Druckseiten, die sich auf Goethes Faust beziehen. Es geht um die erste Szene in der Tragödie erstem Teil. Bekanntlich verzweifelt Faust daran, bei all seinen Mühen um Erkenntnis gescheitert zu sein. Er versucht es mit Magie und beschwört den Erdgeist, doch dieser weist ihn zurück: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.“ Faust ist am Ende: „Nicht einmal dir!“ Er gibt auf und greift nun nach dem tödlichen Gift, das er in einer Phiole bereit hält – er will das Tor durchschreiten, vor dem normale Menschen furchtsam zurückweichen. Faust aber ist stark genug, den Schritt zu wagen. Ist es ihm als Mensch nicht möglich, Erkenntnis zu erlangen, dann womöglich in anderer Gestalt. Er prostet dem Tod zu und ist bereit. Da läuten die Glocken den Ostermorgen ein, ein Chor singt: „Christ ist erstanden“. Nun ist allerdings Faust nicht gläubig. „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“. Dennoch erinnert er sich nun fröhlicher, unbefangener Kindertage, als er ganz naiv die Buntheit der Welt zu genießen vermochte. Wehmütig und ein wenig auch sentimental gestimmt, ändert er seinen Entschluss zum Tode. „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.“
Intellektualität hatte ihn dem Leben entfremdet, Freude am bunten Leben war als Illusion erschienen. Mir fällt dazu jetzt ein, dass vom letzten Abendmahl berichtet wird, Jesus habe Brot und Wein gereicht. Brot für den Körper, Wein für die Freude. Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut. Beides ist uns überliefert als überlebensnotwendig.
Zurück zur kleinen Skizze Ratzingers. Ihm geht es um die Beziehung zwischen Aufklärung und christlicher Religion. Im Doktor Faust ist Goethe die Darstellung eines Denkers gelungen, dem es mit der Aufklärung ernst ist – so ernst, dass er sich offen eingesteht, er hört die Botschaft, doch er glaubt sie nicht. Und dennoch ist er, eigentlich gegen seine eigene Erwartung und gegen seine Grundsätze, für die Botschaft so empfänglich, dass sie sich als rettend erweist. Man muss nicht glauben, um von der Botschaft erreicht zu werden!
Hier erlebe ich – nun wieder ich und nicht Ratzinger – eine mir sehr eindringliche Begegnung nicht nur zwischen Goethe und Ratzinger, auch wieder mit Hannah Arendt. Sie ist Aufklärerin und nicht etwa Gläubige und gleichwohl von der Frohbotschaft derart beeindruckt, dass sie Jesu Lehre für den bedeutendsten Einfluss auf menschliches Zusammenleben hält.
Drei Autoren. Goethe, Arendt, Ratzinger. Jede Begegnung begeisterndes Ereignis für mich.
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