Gläubige haben in Auschwitz der SS standgehalten, erinnert sich der
jüdischstämmige österreichische Schriftsteller Jean Améry in seinem bedeutenden
Essay "An den Grenzen des Geistes". Wer an Gott glaubte oder an den
Sieg des Sozialismus, fühlte sich durch die Unmenschlichkeit sogar noch in
seiner längst gefestigten Überzeugung bestätigt. Der Kapitalismus in seinem
imperialistischen Stadium müsse zur Entmenschung notwendig führen, hatten die
Marxisten schon in den Weimarer Jahren gewarnt. Gottgläubige waren angesichts zunehmender
Gottlosigkeit auf moralische Verkommenheit und Verrohung vorbereitet.
Intellektuelle hingegen
seien zerbrochen, schreibt Améry. Er meint auch sich selbst. Der philosophisch
geschulte Agnostiker erblickte im SS-Staat die Verwirklichung einer Idee, der
er nichts entgegenzusetzen hatte. Sein Humanismus zählte nicht mehr. Als
Wehrloser wurde er sich selbst verächtlich.
Nach der Befreiung quälten
ihn "Ressentiments" - so der Titel eines zweiten bedeutenden Essays.
Er verachtete die Täter, sie inszenierten sich als Opfer von Befehlsnotständen.
Auch ich verachtete sie. Dabei
machte ich eine Entdeckung. Ich hätte gern Rache genommen. Die unschuldig
tuenden Täter hatten meiner Generation dieses furchtbare Erbe hinterlassen,
diese entsetzliche Schuld. Ganz und gar stimmte ich Ravic in Remarques Roman
„Arc de Triomphe“ zu, der seinen ehemaligen KZ-Quäler umbringt.
Ich fand also einen
Mörder in mir vor. Das war kein Ravic, der den Schinder erschießt. Ich hatte ja
keine Schusswaffe.
Meine Waffe war das
geschriebene Wort.
In meinen ersten
Kriminalroman habe ich einen Mörder eingebracht, der als Opfer posiert. Scheinheilige
Killer kannte ich zur Genüge. Aus der Universität, wo sie Vorlesungen hielten.
Aus Redaktionen und Verlagen, wo sie meine Vorgesetzten waren.
Aber es war ein Haken
dabei. Literatur, wenn sie ehrlich ist, zwingt
zur Selbsterkenntnis. Davor darf der Autor sich nicht drücken. Ich musste
selbst einen Mörder in mir haben, begriff ich, wie ich sie in meiner
gesellschaftlichen Umgebung so oft vorgefunden habe. Ich hätte den Widerling
sonst nicht in diesen Kriminalroman auslagern können.
Dass ich ihn auslagern
konnte, den larmoyanten Unhold, war ein erster Schritt auf der langen Straße
zur Befreiung von dem Bedürfnis nach blutiger Rache. Die Kämpfer der Roten
Armee Fraktion sind diesem Bedürfnis erlegen.
Jean Améry ist seinen
Ressentiments erlegen. Er war zu vernünftig, um sich von blutigen
Rachefeldzügen anderes zu versprechen als nur die Verdoppelung nazihafter
Verrohung. Ausdrücklich warnte er vor Aktionen wie denen der RAF.
Was aber tun, wie sich
helfen? Verachtung für die Schergen, die ihn gequält hatten, empfand er wie so
viele meiner Generation der Achtundsechziger. Doch eben diese Schergen waren
nun seine Gönner! In großen Sendern und bedeutenden Zeitschriften konnte er
veröffentlichen, was ihn beschäftigte. Sollte er einen Hans Egon Holthusen
öffentlich demütigen, weil der sich zur SS bekannt hatte, deren Mitglied er
gewesen war? Holthusen war nun Präsident der Bayerischen Akademie der Künste
und überreichte Jean Améry eine Auszeichnung. Auch Geld floss.
Hätte Améry ablehnen
sollen? Er hat es, weshalb auch immer, nicht über sich gebracht. Dabei hatte
Holthusen einen wüsten Hetzartikel gegen Thomas Mann veröffentlicht. Und Améry
hat Thomas Mann höher geschätzt als jeden anderen modernen Autor. Dennoch, er
nahm den Preis aus Holthusens Hand entgegen ... Und seine Ressentiments
wurden immer unerträglicher. Weshalb ließ er das zu?
Seine Vernunft warnte ihn
vor einem drastischen Schritt, wie übrigens Mascha Kaléko ihn getan hat, die
Lyrikerin. Sie hat von einem SS-Mann keinen Preis haben wollen.
Améry war bei seinen Begegnungen
mit Schergen, die ihn nun nicht mehr in die Gaskammer schicken, sondern
auszeichnen wollten, etwas bewusst geworden. Er selbst hatte einen Mörder in
sich. Einen Rächer. Doch seine Vernunft stoppte jede Regung dieser Art und
erstickte sie förmlich in ihm.
Als Autor darf ich meine
Phantasie spielen lassen. Ich stelle mir vor, ich hätte mit Améry sprechen
können.
Machen Sie es wie ich,
hätte ich ihm geraten. Schildern Sie einen Unhold, wie Sie ihn zuerst in
Auschwitz und später erleben mussten, in einem Kriminalroman! Stellen Sie den
Unhold von sich weg, indem Sie ihn zu Papier bringen!
Und was ist der
Unterschied zwischen einem Roman und einem Kriminalroman?, fragt er.
Das ist typisch für ihn,
den analysierenden Rationalisten und Positivisten.
Für mich ist es eine
Steilvorlage.
Gehen Sie in eine
Buchhandlung und fragen Sie nach einem Kriminalroman, sage ich. Man wird Sie zu
einem Regal führen. Aber fragen Sie nicht danach, wie ein Kriminalroman
definiert wird. Denn das kann niemand. Es führt zu einer Dekonstruktion. Am
Ende landen Sie dabei, dass Kriminalgeschichten bereits in er Bibel stehen.
Aber niemand, der einen Kriminalroman verlangt, bekommt im Buchladen eine Bibel
in die Hand gedrückt. Denn was ein Kriminalroman ist, erfährt man nicht durch
analytische Dekonstruktion, man weiß es aus Erfahrung.
Es ist wie mit der Liebe,
fahre ich fort. Dekonstruktion führt zu der Schlussfolgerung, Liebe sei eine
unterbewusste Neurose, die sich zu einer anderen unterbewussten Neurose
hingezogen fühlt – unterbewusst. So in einem wunderbaren Film, wo es als Witz
gemeint ist.
Erlauben Sie niemals,
lieber Jean, spreche ich weiter – erlauben Sie niemals Ihrer Vernunft, Ihre
Erfahrungen zu entwerten. Das ist Hamlets Krankheit!
Leider hat das Gespräch
nie stattgefunden. Améry blieb dabei, seine Ressentiments auf rationalem Wege
auflösen, das heißt: wegdenken zu wollen.
Hätte er einen
verhassten Unhold in sich selbst eingestehen müssen, um ihn literarisch
darzustellen?
Aber das ist Spekulation.
Tatsache ist leider, dass der große Kollege sich vergiftet hat.
Gläubige, hinterlässt er
uns, waren sogar dem extremen Terror in Auschwitz gewachsen. Sie sind von einer
Zukunft überzeugt, sei sie irdisch oder überirdisch.
Intellektuelle nicht. Sie
zerbrechen an der Gegenwart.