Montag, 29. September 2025

Oskar Maria Graf

 

Die gezählten Jahre, Roman von Oskar Maria Graf

Nachwort von Jean Améry


Eine antiquarische Buchhandlung „Die Fundgrube, bei der Volksoper“ in Wien hat den Roman von Oskar Maria Graf geliefert. Ich hatte das Buch eigentlich nur wegen des Nachwortes bestellt, „Ein deutscher Realist“, titelt Améry. Das klingt interessant und gibt wieder einmal zu denken. Das Nachwort fragt uns: „Ist das Wahre das 'Ganze' oder ist vielleicht wahr im geschichtlichen Sinne ausschließlich das moralisch Legitime?“

Die Antwort kennt nicht nur der Wind. „Eine halbe Wahrheit entpuppt sich oft als eine ganze Lüge“, lautet ein Aphorismus Benjamin Franklin's.

Der kluge Jean Améry weiß das selbstverständlich. Wenn er die Frage dennoch nicht als rhetorische, sondern als Suggestivfrage stellt, als sei eine andere Antwort als Zustimmung gar nicht möglich, dann gibt es Gründe – einen Grund. JA ist geprägt nicht nur von der Folter, die ihm angetan, auch von der Menschenverachtung und -vernichtung, die er miterlebt hat.

Dass es das gegeben hat und – wie er annehmen muss – weiterhin geben wird - erfüllt ihn mit Empörung. Diese ist es, die ihn am Leben erhält. Am Leben als Diskutant. Erst als die Einsicht wächst, dass Widerspruch hilflos bleibt, resigniert er, wird Suizidant. Wir haben ihn verloren.

Er lässt uns zurück mit der Frage, die er im Nachwort stellt. Graf antwortet darauf nicht in dem Roman, den Améry als realistisch lobt, sondern sehr deutlich in seinem Erinnerungsbuch „Gelächter von außen“, nämlich von New York aus, wo er zwanzig Jahre lang als Emigrant lebte.

In seinem Roman schildert Graf die Selbstzerstörung der Sozialdemokratie in der Zeit zwischen Bismarcks Verbot der Partei und der Vernichtung der Partei durch die Nazi nach 1933. Geblendet von parlamentarischer Macht habe die SPD-Führung es versäumt, die Machtstellung der Besitzenden zu beseitigen, als sie es noch konnte. Und dass man die Vernichtung der Kommunisten den Rechts-Konservativen überlassen habe, obgleich unter Stalins Führung der Sowjetsozialismus antisozial geworden sei.

In seinen Erinnerungen „von außen“ kommt Graf zum entgegengesetzten Schluss. Einem Emigranten, der Stalin und Hitler als Menschheitsverbrecher gleichgesetzt wissen will, widerspricht Graf mit wirkungsvoller Ironie. Er weiß inzwischen, was die Menschheit dem Bündnis zwischen den USA und der Sowjetunion verdankt – es ist die Verhinderung des drohenden Weltfaschismus. Mit ausschließlich moralischen Mitteln wäre die Allianz des europäischen mit dem asiatischen Imperialismus nicht zu besiegen gewesen.

Wahr im geschichtlichen Sinne ist eben nicht nur das moralisch Legitime. Realitätsnähe erweist sich als unverzichtbar. Dass sie uns verloren gegangen war, erlebte Graf bei seiner Rückkehr nach München. Empört reiste er wieder ab. Empört. Empören auch wir uns. Endlich.


Michael Molsner

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