Montag, 1. Juli 2024

Expertisen

"Putin hat das gleiche Problem wie Hitler". Das lese ich heute als Einschätzung eines Militärexperten. Ich halte sie für irreführend. Hitlers Einschätzung, im Zeitalter der Düsenflugzeuge verfüge das Dritte Reich nicht über genügend Raum, wurde damals vom Generalstab geteilt. Ein Land, das von Jagdbombern in zwei Stunden überflogen werden könne, sei nicht zu verteidigen. Auch General Ludwig Beck, später der militärische Kopf des Widerstands, war dieser realistischen Auffassung. In mehreren Memoranden an Hitler empfahl er, in Verhandlungen mit bestimmten Nachbarstaaten einzutreten. Dort bestehe dringender Bedarf an Modernisierung, bei der Deutschland helfen könne. Geografischer Raum sei weithin unbesiedelt und könne als Gegenleistung von diesen Staaten zu deutscher Verfügung angeboten werden. Bekanntlich hat Hitler darauf bestanden, nicht zu verhandeln, sondern zu erobern. Entsetzen unter Militärs und Diplomaten kam zu spät, sie änderten nichts mehr. Auch die Aufopferung des eigenen Lebens und unabsehbare Gefährdung der eigenen Familie brachte nur die bedingungslose Kapitulation. Auch heute sehen wir einen Staat, der von seiner Führung nicht nur, auch von seinen Eliten als viel zu klein eingeschätzt wird – und viel zu klein auch tatsächlich ist, um zusätzlich noch geteilt zu werden. Das ist es, was gegen die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung spricht und sie einheimischen sowie auswärtigen Mehrheiten sogar als unsinnig erscheinen lässt. Als Hinhalten, um einen unhaltbaren Zustand noch weiterhin zu halten. Irgendwie. Das entlarvt sich selbst als Feigheit. Wie damals im Deutschen Reich gibt es unter Militärs, in der Diplomatie, in der Publizistik und auch in der Bevölkerung den Ratschlag, mit landreichen, unterentwickelten Nachbarstaaten zu verhandeln. Modernisierung könne als Gegenleistung für die Verfügung über Raum angeboten werden. Wie damals das geografisch zu kleine Deutschland setzt auch der geografisch noch viel kleinere Nahost-Staat auf eine militärische Lösung durch Eroberungen. Für uns Deutsche war es kein Erfolg. Zurück zur Lagebeurteilung des eingangs erwähnten Militärexperten. Putin regiert den größten Flächenstaat des Globus. Noch mehr Raum ist das letzte, was er braucht. Hingegen benötigt er dringend die technischen, finanziellen, wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Modernisierung dieser gewaltigen, weithin leeren Räume. Überdies braucht er Sicherheit für die Tausende Kilometer langen Grenzen der seinem Schutz anvertrauten Grenzen. Er hat uns darum gebeten, förmlich darum gebettelt. Beschwört uns nach wie vor, uns nicht sinnlos von Vernunft und Menschlichkeit zu verabschieden. Warum wir dennoch mit Hohn, Hass und Vernichtungswut auf alles Russische, auch seine Literatur, Musik, Malerei reagieren, auf russisches Festhalten an den christlichen und humanen Werten, die wir über zwei Jahrtausende geteilt haben – ist ein Thema für sich und hat selbstverständlich Gründe.

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