Samstag, 23. Januar 2021
Lesehilfe
Lesehilfe
In der Frankfurter Allgemeinen vom 20. Januar ist mir in einem Beitrag meines Kollegen Gerald Wagner eine Formulierung aufgefallen. Er bespricht den Bericht der Regierungskommission für Integration und fragt, ob es künftig eher um die normative Kaft des Faktischen gehen wird oder um die faktische Kraft des Normativen. Ich war beeindruckt und erinnerte mich an einen Satz aus dem Weltbestseller „Das denkende Herz“ von Etty Hillesum, der mir bis dahin allzu schwärmerisch erschienen war. Der Autorin erscheint ein Gedicht von Rilke ebenso präsent wie ein Kampfflugzeug – und das während des Holocaust, in dem sie selbst schließlich untergegangen ist. Sie kann nur die faktische Kraft des Normativen meinen! Solange wir ein Gedicht von Rilke verstehen, haben wir „Werte“, die uns heilig sind. Diese Normen bestimmen uns, Fakten zu schaffen.
Es gibt sie, die faktische Kraft des Normativen! Wir lassen mit dieser Kraft nicht leichtfertig spielen, denn: „Mit identitätsstiftenden und religiösen Heiligtümern spielt man nicht.“ So steht es in einem Brief an die Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen, ebenfalls vom 20. Januar 2021, den Emel Zeynelabidin geschrieben hat.
Freilich ist auch, wie Gerald Wagners Formulierung uns mahnt, die normative Kraft des Faktischen zu berücksichtigen. Fakten können uns in der Tat nötigen, unsere Normen zu überprüfen. „Das wirft die Frage auf, wie viel Realismus die Beschreibung sich leisten sollte, wenn sie das normativ Gewünschte nicht beschädigen will.“
Ein Riesenproblem, dem Politik sich oft stellen muss. Um auf Etty Hillesum zurückzukommen – Franklin Delano Roosevelt wusste, was ihr und so vielen Juden angetan wurde oder noch bevorstand. Deutschland musste besiegt werden. Doch er hatte sich gegen Politiker zu behaupten, die an George Washingtons Botschaft an die amerikanischen Bürger anknüpften, die USA dürften sich niemals in die Händel ewig zerstrittener Europäer hineinziehen lassen. So dauerte es bis zur Kriegserklärung Nazi-Deutschlands an die USA, ehe Roosevelt die umfangreichen Materialhilfen an die Sowjetunion durch den Kongreß bringen konnte. Sie ermöglichten es der Roten Armee, dreieinhalb Millionen deutsche Soldaten im Osten zu binden, während die Alliierten in der Normandie landeten. Sie kamen viel zu spät, um Etty Hillesum zu befreien. Sie lebt jetzt in unserer faktenschaffenden Erinnerung.
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