Donnerstag, 17. Oktober 2024

Goethe gefunden

Fand gestern im öffentlichen Bücherschrank "Goethe erzählt sein Leben". Tadelloser Zustand. Darin ein Zeitungsausschnitt "Zu seinem 125. Todestage am 22. März 1957". Eines der letzten Zeugnisse des großen Kollegen wird angemerkt: "Die Welt, so ausgedehnt sie auch sei, ist immer nur ein erweitertes Vaterland." Ich war erschüttert. Wie wichtig wäre es, wurde mir wieder einmal klar, unser Vaterland Welt zu erhalten. Relevante politische und mediale Mehrheiten scheinen darauf keinen Wert mehr zu legen. Den CDU-Chef hörte ich im Bundestag Raketenangriffe auf die Russische Föderation fordern. Es sei gerechtfertigt. Aber für gerechtfertigt wurden uns viele Kriege dargestellt: gegen Vietnam, Irak, Syrien, Afghanistan. Zuvor die Kriege gegen Sowjet-Russland. Mir haben diese Kriege, ich erinnere mich besonders an den von 1941-1945, keinen Vorteil gebracht. Ich habe an günstigen Erlebnissen weniger im Kopf als an ungünstigen, wenn ich an Krieg, Flucht und Nachkriegszeit denke. Nun, viele auch fb Freunde, beziehen aus exakt der nämlichen Zeit mehr günstige als ungünstige Erinnerungen. Gegen Krieg ganz allgemein ist freilich jeder Mensch schon aus Gründen zivilen Anstands. Doch wenn die jeweils angesagte militärische Intervention gerechtfertigt wäre, muss Krieg halt leider sein, heißt es. Sei uns aufgezwungen, glaubt dann jeder, der üble Folgen nicht tragen muss. Die verbreiteten Narrative wirken stets überzeugend.

Donnerstag, 19. September 2024

Susan Sontag vor über zwanzig Jahren

Susan Sontag nahm vor über zwanzig Jahren den "Jerusalem Preis" entgegen Sie hielt ihre Rede im Mai 2001 Susan Sontag reiste nach Israel und nahm ihren "Jerusalem Preis" am 9. Mai entgegen. In Gegenwart des Jerusalemer Bürgermeisters sagte sie: “I believe the doctrine of collective responsibility as a rationale for collective punishment is never justified, militarily or ethically. And I mean of course the disproportionate use of firepower against civilians, the demolition of their homes, the destruction of their orchards and groves, the deprivation of their livelihood and access to employment, to schooling, to medical services, or as a punishment for hostile military activities in the vicinity of those civilians.” Niemals werde es Frieden im Mittleren Osten geben, sagte Sontag, "until Israel first suspends its settlements, and then demolishes them." Einige jubelten, andere verließén den Saal. Haaretz hat ausführlich berichtet. Im Netz verfügbar. An anderer Stelle sagt Sontag: "No longer can a writer consider that the imperative task is to bring the news to the outside world. The News is out." Über die Lügen und die Morde (slaughter) seit Beginn der Belagerung sei berichtet worden, "while the decision of the western European powers and the United States not to intervene remains firm..." Times Literary Review, Oktober 21, 1993. Dieser wunderbare Essay bezieht sich auf die Belagerung von Sarajevo und stellt eine sehr ernste Warnung dar, dem "serbischen Faschismus" einen Sieg zu überlassen. Sie schreibt: "This is the first of the three European genocides of our century to be tracked by the world press, and documented nightly on TV." 1915 hätte es keine täglich aktualisierten Berichte aus Armenien gegeben, und keine ausländischen Kamerateams in Dachau und Auschwitz. Bis zum bosnischen Völkermord sei es die Überzeugung der besten Reporter dort gewesen, sie nennt Roy Guttman von Newsday und John Burns von der New York Times, dass die Welt etwas tun würde, sobald die Nachrichten öffentlich verfügbar wären. "The coverage of the genocide in Bosnia has ended that illusion..." Eine mutige Frau, "under fire" hat sie in Sarajevo "Warten auf Godot" inszeniert. "Nichts zu machen", lautet die erste Zeile der deutschen Fassung des Stücks.

Freitag, 6. September 2024

Doch noch ein ganz Großer in Europa?

Ich bewundere E. Macron. Um sicherzustellen, dass der MP innerhalb von nur drei Wochen (bis 1.10.) ein Budget durchs Parlament bringt, konnte er die Kandidatin des Linksbündnisses nicht nominieren, nicht mal die Linke selbst sicherte ihr Unterstützung zu. Ohne Budget hätte Frankreich mit Problemen bei der Refinanzierung seiner Schulden rechnen müssen, diese wären gestiegen. Den Vertreter der Republikaner zu nominieren, die in den Wahlen zum Parlament nur den vierten Platz bekommen hatten, bedeutete die Sicherung der Pensionsreform. Das von den Linken und der Mehrheit der Bevölkerung geforderte Renteneintrittsalter von 60 Jahren hätte Frankreich ruiniert. Eine unglaublich mutige Entscheidung, Frankreichs Rettung oder Ruin in die Verantwortung der Nationalen Allianz zu schieben. Nun wird Marine Le Pen zeigen (müssen), ob sie für Frankreich steht oder für sich selbst. Die Linke ist wütend, der Mainstream auch. Doch ein ganz Großer, dieser scheinbar so Schwache?

Sonntag, 25. August 2024

Schwindende Empathie

In dem zweieinhalbtausend Jahre alten Stück "Die Troerinnen" stellt Euripides das Schicksal von Eroberten vor. Troja ist gefallen. Hekuba, die Königin Trojas, klagt ihr Leid. "Entehrt, geschändet, entheiligt, entweiht!/Schmerz über Schmerz, Weh über Weh!/Troja, Troja - / Oh - / Wie elend sind, die dich verlassen,/ Elend die Lebenden,/ Elend die Toten all!" Sie selbst, Königin einst, wird als Sklavin Dienstbotendienste für nacktes Überleben leisten müssen und Schläge bekommen, wenn sie nicht eifrig genug dient. Sie hat die Ermordung von Töchtern und Söhnen erleben müssen. Freilich: "O Mensch, du Tor, du stürzt in eitler Kraft/ Altar und Mal der Toten, frevelhaft,/ Indes dein eigen Grab am Wege klafft". Alle Zitate aus der Nachdichtung Fanz Werfels, Aufbau Verlag 1973. Jedoch: Was ist uns Hekuba? In Shakespeares Stück Titus Andronicus hören wir von ihr: "Knabe. ... Denn oftmals hört ich vom Großvater schon, Den Geist verwirr' ein Übermaß des Grams; Und las, wie die trojansche Hekuba Toll ward durch Kummer: das erschreckte mich, ..." Mich - Molsner - erschreckt es auch, doch es überrascht mich nicht. Bei Euripides ist es der Gott des Meeres, Poseidon, der die zitierte Warnung ausspricht. In der Neuzeit haben Hannah Arendt, Stephane Hessel und widerstrebend sogar Jean Amery davor gewarnt, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Amery, der wohl wusste, dass es für Juden keinen sicheren Hafen mehr gäbe, sollte Israel das Schicksal Trojas erleiden. Wir stehen nun an der Seite und schauen zu, während uns die Empathie ausgeht. Entschuldigt bitte stehen gebliebene Tippfehler.

Samstag, 17. August 2024

Treue Herzen

The Left Chapter Zhou Enlai in Paris -- Photos of Zhou Enlai Between 1920-1924 he studied in France and Germany under a work-study program and spread Marxism among Chinese workers and students living in Europe. Eine sehr interessante Zeitspanne. Frankreich als Siegermacht verlangte von uns, den Verlierern, Entschädigung für die von uns angerichteten furchtbaren Verwüstungen im Elsaß. Das "rote München" (der populäre Eisner) wollte Frankreich überreden, auf seine Forderung wenigstens teilweise zu verzichten. Die SPD-Regierung in Berlin (Ebert) hielt das für undurchführbar, der bayerische Ministerpräsident - wie hieß er nochmal, Vorname Johannes - floh nach Bamberg, lief sozusagen um sein Leben. Berlin meinte, so gehe es nicht, und rief die Armee zu Hilfe. Unter Gustav Noskes Aufsicht griff die Armee so ein, wie es von Soldaten, die keine Polizeiausbildung haben, zu erwarten war. Da sind fürchterliche Dinge geschehen. Jetzt wird behauptet, die SPD hätte die Revolution verraten - was impliziert, eine sozialistische Revolution sei möglich gewesen. Kenner der Verhältnisse wissen, dass die Siegerstaaten gerade einen gemeinsamen Krieg gegen das bolschwistische Russland (Lenin) führten. Es ging um viel Geld, nämlich um die Rückzahlung der Schulden, die der Zar versprochen hatte und Lenin verweigerte. Ein bolschewistisches Deutschland (Mühsam, Landauer, "sich fügen heißt lügen"), hätten sie niemals geduldet. Die Vorstellung ist von sympathischer Realitätsferne, wird aber treuherzig wiederholt.

Mittwoch, 14. August 2024

Zufall oder nicht?

Gibt es Zufälle? Manchmal zweifle ich daran. Gelegentlich einer zufälligen Entstaubung von Büchern stoße ich auf ein Vorwort, das Sartre zur deutschen Ausgabe seines Stücks „Die Fliegen“ geschrieben hat. Die Franzosen hätten nach der Schmach von Vichy, als sie sich 1942 der Besetzung durch die Wehrmacht unterwarfen, zur Mutlosigkeit geneigt. Er aber habe sie 1942 daran erinnert, dass sie noch immer die Wahl hatten, eine Zukunft in Freiheit zu wählen – wie die Deutschen, fast 20 Jahre danach. Schmachvolle Vergangenheit zu verleugnen, das komme niemals in Frage, doch sei Mutlosigkeit auch für die Deutschen die falsche Antwort darauf. Man darf sich, schreibt Sartre anderswo, nicht in die eigene Vergangenheit einschließen wie in eine Hochsicherheitszelle. Statt uns zum Gefangenen unserer Niederlagen zu machen, können wir in die Zukunft eintreten. Die Tür der Zelle ist gar nicht verschlossen, sie steht offen. Als ich meiner Frau von der scheinbar zufälligen Entdeckung berichtete, gab sie mir bedeutenden Bescheid. Wir Deutschen kehren Tag für Tag und immer wieder in die offen stehende Zelle unserer Vergangenheit zurück. Kein Tag, an dem wir dem Dritten Reich der Nazi nicht auf unseren Bildschirmen oder im Radio begegnen und alle seine Helfer kennenlernen. Wir verweigern unsere Zukunft um unserer Vergangenheit willen, die zu leugnen niemand wünscht. Es gibt eine Zukunft auch für uns Deutsche, trotz der Untaten unserer Vergangenheit, und auch für die Franzosen wieder, trotz „Vichy“.

Donnerstag, 18. Juli 2024

Lebensgefährlicher Unsinn?

Michael Heiner Molsner Kürzlich auf fb Einige Sätze von Joseph Ratzinger fallen mir auf: "Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selber an seinem Subjektcharakter teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert." Vielleicht - füge ich hinzu - ist damit das Wesen westlicher Außenpolitik definiert: Russland nicht mehr als Subjekt seiner Geschichte anzuerkennen, sondern es zu einem Objekt westlicher Interessen zu machen. Noch beharren die Russen auf Gegenwehr. Und "solange der Irre in Moskau am Rad dreht, ändert sich nichts", teilte eine langjährige Freundin auf dieser fb -Seite mit. Elke Jansen Eine Menge älterer Herren schreiben und veranlassen eine Menge lebensgefährlichen Unsinn. Ratziner, Trump, Putin, Orban - Sie auch? Michael Heiner Molsner Jedenfalls höre ich gerne auf jüngere Frauen. So zum Exempel auf die sehr nachdrückliche Empfehlung Sarah Wagenknechts, Thomas Pikettys Buch „Kapital und Ideologie“ mit genauen Zahlen zu den Kosten von Gesinnungsökonomie zu lesen. Das ist nun aber ein kiloschwerer Backstein, ich habe zunächst in den knapp anderthalb tausend Seiten vor allem quer geblättert. Hängen geblieben bin ich an einer Stelle, die mich auflachen ließ. Er sagt da, was Filmfans als Witz kennen. Der Rektor einer Gesamtschule gibt einem Lehrer den Rat, sich selbst morgens zuerst zwei Fragen zu stellen: Wo bin ich und Wer bin ich. Könne man diese beiden Fragen zufriedenstellend beantworten, so sei der Start in den Tag gut gelungen. (John Cleese, „Recht so, Mister Stimpson“). Piketty will diese Fragen dem eigenen Staat stellen. Wo bin ich, muss der Staat beantworten, indem er seine aktuellen Grenzen definiert. So erfahre ich, wohin ich gehöre und wo ich Schutz für mein Eigentum beanspruchen darf. Es geht um den Teil meines Eigentums, der mir nach Recht und Gesetz gehört. Einerseits sind es Grundbesitz, Haus, Vermögen. Andererseits aber auch die ererbte eigene Sprache, die traditionellen Prägungen ebenso wie die erinnerten Umbrüche und Neuerungen. Das alles ist „mein“ und darf mir vom Staat nicht genommen werden – auch eingeschränkt und verändert nur nach Recht und Gesetz. Wo ich innerhalb definierter Grenzen nicht materiell und kulturell geschützt bin, fühle ich mich nicht einheimisch, sondern fremd. Abgehängt und nicht mehr daheim zu sein, ist ein weit verbreitetes Gefühl. Piketty hält diese Entwicklung für so gefährlich, dass gegengesteuert werden muss. Sarah Wagenknecht, wie ich sie verstehe, meint das auch. Ich stimme ihr zu und darf die Antwort erwarten, ich sei ein Verbreiter von „lebensgefährlichem Unsinn“.