Jubel des Herzens
Von Michael Molsner
„Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Jeder werde einmal, vielleicht sogar dann und wann, von dieser Frage gestreift, lese ich. (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1935). Etwa in einer großen Verzweiflung, wo „jeder Sinn sich verdunkelt“, wie nach der Katastrophe des verlorenen 1. Weltkriegs 1919 in Deutschland. Oder in einem Jubel des Herzens, „weil hier alle Dinge verwandelt und wie erstmalig um uns sind, gleich als könnten wir eher fassen“, dass sie nicht wären, als dass sie so sind, wie sie sind.
Er war 1924 der jungen Hannah Arendt begegnet.
Sie musste sich nach zwei Jahren von dem verheirateten Geliebten trennen, vorerst räumlich. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie: „Bitte vergiss mich nicht. Und vergiss nicht, wie sehr und wie tief unsere Liebe der Segen meines Lebens geworden ist.“
Hannah hatte neben Philosophie bei Heidegger auch Theologie studiert, sie kannte die Bedeutung des Begriffs.
Segen bezeichnet in vielen Religionen ein Gebet, einen Ritus, wodurch Personen oder Sachen Anteil an göttlicher Kraft oder Gnade bekommen sollen. Der christliche Begriff Segen, fachsprachlich auch Benediktion, entspricht dem lateinischen Wort benedictio, abgeleitet von benedicere aus bene ‚gut‘ und dicere ‚sagen‘, also eigentlich ‚von jemandem gut sprechen, jemanden loben, preisen‘. Ziel des Segens bzw. Segnens (lateinisch signandum) ist die Förderung von Glück und Gedeihen oder die Zusicherung von Schutz und Bewahrung.
Was die Bewahrung betrifft, die war ernst gemeint. Mit 44 Jahren kehrt Hannah nach Deutschland zurück. Als Jüdin hatte sie emigrieren müssen und viele Freunde verloren. Heidegger hatte sich zur Hitler-Partei bekannt. Wollte, konnte, durfte sie ihn wiedersehen? „Ich bin ratlos“, gestand sie ihrer besten Freundin Mary McCarthy („Die Clique“, Roman). Und bat: Bitte hilf mir. Rate mir.
Die Freundin telegrafierte – und in der Antwort scheint ein Lachen mitzuklingen: „Du bist ja immer noch verliebt wie ein Schulmädel. Geh hin, um Gotteswillen!“
Sie trifft ihn am Abend ihres Eintreffens in Freiburg, wo er jetzt wohnt, und sie bleiben die Nacht über zusammen. Anderntags schreibt sie ihm: „Diese Nacht ist die Bestätigung eines ganzen Lebens, eine völlig unerwartete Bestätigung.“ Sie habe zuerst aus Stolz gezögert und weiss jetzt, hätte sie diesem Stolz nachgegeben, so hätte sie ihr Leben „verwirkt“.
Verwirkt - der Begriff erreicht uns aus sehr alter Zeit, als schwere Verbrechen die Abwendung von Gottes Gebot bedeuteten. Er bedeutet, jemand hat eine Missetat begangen, für die er den Tod verdient.
Hannah schreibt Heidegger, sie hätte sich selbst verloren, hätte sie das Versprechen ihrer jungen Jahre nicht gehalten: Den Jubel ihrer beider Herzen nicht treu bewahrt.