Dienstag, 23. Mai 2023

Kampfbegriffe

Unsere Medien borgen sich immer häufiger Propagandaformeln des Dritten Reiches für ihre Kommentare aus. So spricht ein Kommentator der WAZ (Westdeutsche Allgemeine) von einem „totalen Krieg“, den Putin führe. Weshalb der Präsident der Russischen Föderation auf die Kopie ausgerechnet der Politik verfallen sollte, die insbesondere in und an Russland gescheitert ist, weiß der Kommentator: „Der Hass auf den Westen treibt den Kremlchef an“. Also Leute, was immer Putin antreiben mag, der Kommentator kann es nicht wissen. Sehr wohl wissen kann die Redaktion, was den „Leopard“ antreibt, den Schützenpanzer. Ohne Getriebe einer Augsburger Firma rollt kaum ein Panzer durch Europa, lesen wir – und dürfen es wohl auch glauben. Fast eine volle Seite wird dem Thema gewidmet. Annähernd ebenso umfangreich ist ein Beitrag, der mich lebhaft an meine Erfolge als junger Redakteur bei der Grünen Presse erinnert. „Liebt Prinzessin Anne ihren Piloten noch immer?“ und ähnlich. Die WAZ heute: „Bachmut – wirklich ein Sieg für Putin? Die ostukrainische Stadt scheint erobert. Doch das Blatt könnte sich für Russland bald wenden“. Tja. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, 2. Akt, 2. Aufzug. Die Erkenntnis an sich ist also nicht ganz neu. Immerhin durch einen unserer Klassiker zu belegen. Weniger seriös erscheint mir die Verarmung von Begriffen, der wir neuerdings so oft begegnen. Die WAZ heute auf ihrer Titelseite: „NRW sagt Kinderarmut Kampf an“. Direkt daneben „Kämpfe um Bachmut dauern laut Ukraine an“. Der Begriff „Kampf“ wird so von Bedeutung entleert, meine ich, denn in dem einen Fall geht es um die Ausbildung Minderjähriger, daneben um Krieg, sogar um einen totalen. Ausbildung ist wichtig, folgere ich. Auch für Redakteure.

Sonntag, 21. Mai 2023

Ein Leben, zwei Versuche

Vor mir liegt die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom gestrigen Samstag. Die Seite eins wirbt mit der Schlagzeile G-7-Staaten wollen Russland mit Sanktionen "aushungern". Bei der Drohung handelt es sich um ein wörtliches Zitat. Russen auszuhungern ist noch zu meinen Lebzeiten vom deutschen Staat versucht worden. In der Millionenstadt Leningrad wäre es fast gelungen. Die Einwohnerzahl konnte erheblich reduziert werden (auf 300000, aus dem Gedächtnis, steht im Geschichtsbuch). Dass es zu meinen Lebzeiten wiederholt und beifällig kommentiert werden könnte, habe ich nicht für möglich gehalten. Die FAZ habe ich längst abbestellt, doch diese Ausgabe werde ich als Zeitzeugnis meinem Archiv beifügen. Sollte ein Nachfahre darin stöbern und diese Seiten - vor allem die EINS - finden, wird er sich fragen, wie wir als die Zeitgenossen wohl reagiert haben. Vorsorglich bemerke ich, dass individuelle Proteste sinnlos waren und die Opposition entweder schweigt oder entmachtet ist. Herzschmerzen sind nur ein Symptom, kein Protest.

Montag, 15. Mai 2023

Brief an meine Abo-Zeitung

Meinhard Greydt, "Nicht von dieser Welt". Jean Améry teilt in seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" mit, dass im Nazi-KZ Auschwitz zwei Gruppen sich als überlebensfähig erwiesen, Kommunisten bzw. Marxisten sowie Christen bzw. Gottgläubige. Marxisten diskutierten weiter über die barbarischste Form des Imperialismus, einfachere Kommunisten sagten einfach: Die Sowjetunion muß und wird siegen. Gottgläubige hielten die von ihrem Bekenntnis geforderten Riten ein, so Juden den Sabbath, und ein polnischer Priester, der keine moderne Fremdsprache beherrschte, blickte traurig einem besonders üblen Schergen nach und sagte auf Lateinisch: "Des Menschen Wille geht zum Bösen" - womit er auf die Erbsünde Bezug nahm, die von Intellektuellen als instrumentelle Vernunft bezeichnet wird. Der junge Priester habe hinzugefügt: "Aber Gottes Güte ist unermesslich und wird siegen". Beide Gruppen hätten auf die gute Zukunft jenseits der schrecklichen Gegenwart hin gelebt und überlebt. Nachdem Améry in den Freitod gegangen war, sprach man von einer frühzeitig bei ihm aufgetretenen Depression; doch das kann dem Wissenschaftler und großen Schriftsteller Primo Levi niemand nachsagen, und auch er wählte den Freitod, beide nach der Befreiung und trotz bedeutender Erfolge. Sowohl Améry wie Levi bekannten sich als aufgeklärte Intellektuelle, daher Atheisten, und Améry hinterlässt aus Auschwitz den Erfahrungswert, dass aufgeklärter Humanismus dort nicht leben half. Gerade in unserer Zeit eines von instrumenteller Vernunft angesagten menschheitsbedrohenden Weltkrieges sollten wir die Folgen dessen, was Theologen die Erbsünde nennen, Vernunft ohne Empathie, nicht kleinreden. Das Versprechen, "Ihr werdet sein wie Gott", ist KEIN Erfahrungswert!

Montag, 8. Mai 2023

Eva's Apfel

Die aktuell gefährlichste Art der Selbstzerstörung ist für uns alle der hoffnungsvolle Gebrauch dessen, was Philosophen als instrumentelle Vernunft bezeichnen – Theologen sprechen von der Erbsünde. Philosophen meinen den Gebrauch der rationalen Fähigkeiten ohne Empathie, Theologen Triebverfallenheit ohne Berücksichtigung von Gottes Gebot. Die populäre Überlieferung der Erbsünde spricht davon, dass der erste Mensch sich von seiner weiblichen Partnerin verführen ließ. Das beantworten wir mit einem Lächeln und viel Verständnis. Wir vergessen darüber das für uns noch immer, und heute erst recht, weit bedeutendere Versprechen, das den Menschen gemacht wurde: Falls sie es über sich brächten, von der verbotenen Frucht zu essen, würden sie sein wie Gott. An Gottes Stelle setzen sich diejenigen, die ihre eigenen Regeln setzen. Sie bedienen sich der instrumentellen Vernunft, um Vernichtung und Verwüstung über ihre Gegner zu bringen. Nur so, glauben sie, erlangen oder erhalten sie ihre gottgleiche Macht. Sie wollen sein wie Gott. Gerade in unserer deutschen Geschichte gibt es dafür ein Beispiel. Wir hatten einen Staatslenker, der noch in den Tagen seines Niedergangs göttliche Verehrung durch uns Deutsche für möglich hielt. Er wollte auf dem Münchener Königsplatz in einem Marmorsarkophag aufgebahrt werden. Eine Ewige Flamme sollte von einer Ehrenwache der SS geschützt sein. Viel Volk würde an der Gedenkstätte beten. Das tatsächliche Ende dieses Versuchs wirkt nicht etwa abschreckend. Im Gegenteil. Auch unsere Staatslenker – alle, zu denen wir uns, wie einst, wieder mit leidenschaftlicher Hingabe bekennen, verlangen von aller Welt, dass nur unsere Auslegung allgemein anerkannter Regeln übernommen zu werden hat. Berücksichtigung von lokalen Umständen in Ausnahmefällen. Ansonsten gilt, die Rechnung ist ohne Abzug zu begleichen. Folgen, so furchtbar sie oft gewesen sind und noch sein könnten, seien als Kollateralschäden hinzunehmen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Fallen Menschen, Tiere, Ernten. Es ist die Erbsünde. Sie besteht nicht darin, dass wir Männer die uns von Gott gegebenen Partnerinnen immer wieder so verführerisch finden.