Montag, 15. Mai 2023

Brief an meine Abo-Zeitung

Meinhard Greydt, "Nicht von dieser Welt". Jean Améry teilt in seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" mit, dass im Nazi-KZ Auschwitz zwei Gruppen sich als überlebensfähig erwiesen, Kommunisten bzw. Marxisten sowie Christen bzw. Gottgläubige. Marxisten diskutierten weiter über die barbarischste Form des Imperialismus, einfachere Kommunisten sagten einfach: Die Sowjetunion muß und wird siegen. Gottgläubige hielten die von ihrem Bekenntnis geforderten Riten ein, so Juden den Sabbath, und ein polnischer Priester, der keine moderne Fremdsprache beherrschte, blickte traurig einem besonders üblen Schergen nach und sagte auf Lateinisch: "Des Menschen Wille geht zum Bösen" - womit er auf die Erbsünde Bezug nahm, die von Intellektuellen als instrumentelle Vernunft bezeichnet wird. Der junge Priester habe hinzugefügt: "Aber Gottes Güte ist unermesslich und wird siegen". Beide Gruppen hätten auf die gute Zukunft jenseits der schrecklichen Gegenwart hin gelebt und überlebt. Nachdem Améry in den Freitod gegangen war, sprach man von einer frühzeitig bei ihm aufgetretenen Depression; doch das kann dem Wissenschaftler und großen Schriftsteller Primo Levi niemand nachsagen, und auch er wählte den Freitod, beide nach der Befreiung und trotz bedeutender Erfolge. Sowohl Améry wie Levi bekannten sich als aufgeklärte Intellektuelle, daher Atheisten, und Améry hinterlässt aus Auschwitz den Erfahrungswert, dass aufgeklärter Humanismus dort nicht leben half. Gerade in unserer Zeit eines von instrumenteller Vernunft angesagten menschheitsbedrohenden Weltkrieges sollten wir die Folgen dessen, was Theologen die Erbsünde nennen, Vernunft ohne Empathie, nicht kleinreden. Das Versprechen, "Ihr werdet sein wie Gott", ist KEIN Erfahrungswert!

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