Freitag, 25. Mai 2018

Konnte man 1967 schon wissen, was heute geschieht?


Schlag nach bei Konrad.
Alt-Bundeskanzler Adenauer hat 1967 vorausgesagt, was wir ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erleben.
Klingt unwahrscheinlich, kann jedoch nachgeprüft werden im dritten Band seiner Erinnerungen (Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1967). Adenauer sieht voraus, dass wir Europäer – wenn uns die politische Vereinigung misslingt  - „Untergebene“ auch der uns zunächst wohlwollenden USA bleiben werden. Wir würden uns, da kein europäischer Staat allein für sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch Großmacht ist, an die Patronage der schützenden Supermacht gewöhnen und allmählich erschlaffen. Das sei gefährlich, weil die USA auf die Dauer überfordert wären und zweitens, weil sie nicht immer dieselben Interessen vertreten wie Europa.
Adenauer sieht im Hintergrund der Weltpolitik zwei nichtweiße Völker aufkommen, Rotchina und Indien. Wir dürften, meint er, keine Zeit verlieren, um unsere europäischen Werte im Weltmaßstab auch dann schützen und wirkungsvoll vertreten zu können, wenn  einmal die USA von ihrer Rolle als Hüter dieser Werte zurücktreten. Als Gemeinsamkeit europäischer Völker  sieht er: den Geist der Griechen und Römer und das Christentum. Geistig sei Europa einig – bei aller Unterschiedlichkeit der Traditionen.
Eine der größten drohenden Gefahren sieht er im Mangel an Vorausschau der Entwicklung, in der „Kleinheit des Denkens“.
Und noch einmal und immer wieder, es dürfe keine Zeit verloren werden. Verpasse man die Gelegenheiten, so werde dieses in seinem Wesen durchaus einige, politisch aber uneinige Europa zur weltpolitischen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Dies werde auch wirtschaftliche Folgen haben, warnt er.

Soweit meine Zusammenfassung, sie kann die Lektüre der faszinierenden Eingangskapitel nicht ersetzen. Einige Folgerungen drängen sich mir auf.
Von den zwei Supermächten, die das Ende des Weltkrieges übrig gelassen hat, ist eine inzwischen zusammengebrochen. Die Ursachen waren vor allem: starres Festhalten am globalen Heils- und Hegemonialanspruch, finanzielle Überbeanspruchung der eigenen Möglichkeiten, militärische Unterdrückung von Alternativen – Eroberungskrieg.
Eben diese Fehlhandlungen beobachten wir aktuell von der jetzt einzigen Supermacht. 
Es ist, wie mir scheint, ein Augenblick der Entscheidung für uns Europäer. Bleiben wir „Untergebene“? Oder wagen wir Selbständigkeit und Eigenverantwortung? Können wir es überhaupt noch? Oder sind wir in  den Jahrzehnten der Patronage „mit der Zeit der Erschlaffung verfallen“ (K.A. p. 18)?
Wir alle erleben, mehr oder weniger bang, wie europäische Staats- und Ressortchefs hin und her reisen, wie sie in Moskau, St. Petersburg, Peking und natürlich Washington um Rat und Hilfe bitten und öffentlich erwägen, was möglich und was wohl vorteilhaft wäre. Für uns. Für die Welt.

Dazu fällt mir das Erlebnis eines Schülers von Jean-Paul Sartre ein. Der große Schriftsteller und Philosoph war, aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassen, 1941 nach Paris zurückgekehrt. Er scharte Studenten und Freunde um sich und erwog, wie die Resistance zu organisieren wäre. Es gab bereits zwei Gruppen, die konservative De Gaulles und die kommunistische. Sartre hatte an beiden mancherlei auszusetzen. Er kam zu der Überzeugung, es müsse eine dritte – in sich einige – Widerstandsgruppe gebildet werden. Praktische Versuche in dieser Richtung scheiterten jedoch. Man kam zu keinem Schluß. Sartre nahm Zuflucht zu Veröffentlichungen.

Ein Jahr später führt die französische Polizei in Paris die große Razzia gegen die jüdische Bevölkerung durch. An diesem Tag entschließt sich einer aus Sartres Kreis zum entscheidenden Schritt. Er will sich dem bewaffneten Kampf an der Seite der Kommunisten anschließen.
„Sie schrien nicht, die jüdischen Kinder an diesem Morgen des Jahres 1942. Sie weinten nicht. Sie warteten nur, umzingelt und bewacht. Sie waren da, das war alles. Sie suchten bei keinem Vorbeigehenden Schutz. Und dennoch, ich erinnere mich, wie ich beim Laufen dachte: Ich werde die Herstal-Pistole, die ich Ende letztem Jahres M. geschenkt habe, zurückholen müssen. Ich hoffe, er hat sie gut geschmiert und gut versteckt… Das war meine explizite und ‚praktische’ Antwort.“
(Annie Cohen-Solal, SARTRE, Rowohlt 1988,p. 291).

Es gibt Augenblicke, da definieren wir, wer wir sind, wer wir sein wollen. Ausweichen gilt nicht mehr. 
 

Samstag, 12. Mai 2018

Die EU am Ende?




Blackmailers don't shoot ist der Titel einer frühen Kriminalstory Raymond Chandlers. Doch wer erpresst wird, befindet sich dennoch in einer unheilvollen Situation. Auch wenn der Erpresser nicht gleich schießt, sein Opfer wird entweder den geforderten Preis bezahlen und muss sich auf weitere Forderungen einstellen - oder nicht bezahlen und das angedrohte Übel in Kauf nehmen. Die Europäische Union hat sich in diese Lage manövrieren lassen. Entweder sie zerstört sich selbst, indem sie das Iran-Abkommen opfert und damit ihre Ohnmacht eingesteht, oder sie wird zerstört, weil einzelne Mitgliedsländer ihrer Beziehung zu den USA Priorität einräumen gegenüber der ohnehin gespannten Beziehung zu Brüssel. Die EU hat sich erledigt, fürchte ich. 
Geschlechterkriege sind unsere Form der Befreiung, sind nicht so riskant. Bist du schon Leser*In? 
;-)

Auf fb gepostet 09.05.18



Freitag, 4. Mai 2018

Karl Marx 200: Wenn’s aber wahr ist?


Zum Gedenken an den Geburtstag des Weltökonomen häufen sich unsinnige Darstellungen seiner Analysen. So wird behauptet, die praktische Umsetzung seiner Erkenntnisse habe zum Blutbad der Oktoberrevolution geführt. Etwas derart Blödsinniges der Öffentlichkeit zuzumuten, heißt nichts anderes, als dass diese für dumm gehalten wird. 
Marx hat erkannt, dass die bürgerliche Ökonomie zu Widersprüchen innerhalb von Staaten und zwischen Staaten führen muss. Im Ersten Weltkrieg bewahrheitete sich diese Erkenntnis in grausiger Weise. Getrieben vom Wahn, fürs jeweilige Vaterland zu kämpfen, oder gar für dessen Werte, löschten sich allein vor Verdun 800 000 junge Menschen gegenseitig in Stahlgewittern aus. Aus dieser ungeheuerlichen Barbarei folgerte Lenin, dass der Zeitpunkt gekommen sein müsse, die Verantwortlichen durch weniger zynische, nicht direkt menschenfeindliche Regierungen zu ersetzen. Da eine Revolution nicht ohne Gewalt durchzusetzen ist, mussten allerdings Gewaltmittel eingesetzt werden, aber die Opfer des bolschewistischen Oktober sind doch an Zahl nicht mit denen der aufeinander prallenden Imperialismen zwischen 1914 und 1918 zu vergleichen!
Zu den Folgen nicht des Oktober, sondern der Neuverteilung globaler Einflusszonen seit den Dreißigerjahren zählen die Kriege Japans gegen China und die des Dritten Reiches. Zählt auch der Holocaust.
Halten wir hier einen Augenblick inne. Bedenken wir, was das bedeutet. 200 % Gewinn, hat Karl Marx befürchtet, und es gibt kein Verbrechen, vor dem die Ausbeuter zurückschrecken.
Ich sehe Anne Frank vor mir, Etty Hillesum.
Mit diesen Konsequenzen des Imperialismus glaubt man Marx zu widerlegen? Im Ernst?
Ah, nein – jetzt wird Stalin aufs Tapet gestellt. Er habe blutig gehaust. Nun also, Stalin hat bereits 1935 erklärt, die Welt steuere auf einen Krieg zu, bei dem diejenigen, die sich 1918 benachteiligt fühlten, sich schadlos halten wollten. Er fügte hinzu: Die Sowjetunion werde sich von hochgerüsteten Räuberstaaten nicht in einen Krieg hetzen lassen, sondern mit jedem Räuberstaat einzeln Friedensverträge schließen, um die Entwicklung des Sowjetsozialismus voranzutreiben. Seltsam bleibt, dass 1936 Winston Churchill eine Artikelserie begann, in der er voraussagte, Hitler werde und müsse Raubkriege führen.
Der Marxist und der Erzkonservative stimmten in ihren Analysen überein. Ist es zu erklären? Sie haben – wie Karl Marx – Tatsachen gelesen und nicht Propaganda.
Mit Stalin Karl Marx widerlegen? Im Ernst?
Auch jetzt wieder haben imperialistische Staaten begonnen, die Welt unter sich neu aufteilen zu wollen. Wieder werden Werte nach vorn geschoben, um die Massen zu mobilisieren. Demokratie! Sie bedeutet für uns, die wir durch mächtige Kriegsallianzen geschützt sind, einige Freiheit. Sie bedeutet für wehrlose Staaten das Gegenteil: Wir nutzen die demokratischen Freiheiten, die sie uns gewähren müssen, um dort Regierungen einzusetzen, die unsere Interessen vertreten. Demokratisch gewählte Politiker, welche die Interessen ihrer einheimischen Wähler vertreten wollen, lassen wir absetzen oder ermorden. Vorbereitet werden diese Aktivitäten durch Stiftungen, welche NGOs finanzieren, deren völlige Bewegungsfreiheit wir namens der Freiheit schlechthin selbstgefällig einfordern. Wer sich nicht daran hält, hat Übel jeglicher Art – wirklich jeglicher Art – zu gewärtigen.
Demokratie ein Argument gegen Karl Marx? Im Ernst? 
   

Dienstag, 1. Mai 2018

Ich will heim


„In my younger and more vulnerable days“, um den ersten Satz eines berühmten Romans zu zitieren, habe ich einen Teil unserer Presse als frei empfunden. Es gab Medien, die wider den Stachel löckten: dagegen, dass Arno Schmidt wegen Gotteslästerung angeklagt und Hildegard Knef als Sünderin verunglimpft wurde, um Beispiele zu nennen. Es war ein Kulturkampf gegen Spießbürgerei, der da ausgetragen wurde. Teils sehr heftig. Ich fühlte mich mit Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau und der Zeit solidarisch und bei der richtigen Truppe, sowohl passiv als Leser wie aktiv als Journalist. In beiden Blättern konnte ich mich informieren und selbst publizieren.
Später habe ich festgestellt, dass es Kulturkämpfe gegen Spießbürgerei schon lange vor meiner Zeit gegeben hatte. Mit unglaublicher Courage hatte Franziska von Reventlow in der Kaiserzeit den Roman einer weiblichen Pubertät zu veröffentlichen gewagt, Ellen Olestjerne. Es war die Entdeckung der Authentizität in der deutschen Literatur – wir Achtundsechziger haben sie wiederentdeckt im vielgeschmähten Materialismus des 19. Jahrhunderts. Was uns als Begründung für den Krieg in Vietnam angeboten wurde, genügte uns nicht, wir diskutierten Karl Marx und mischten uns in die Politik ein. Was in den Arztpraxen als Ursache von Kopfschmerzen genannt wurde, war noch läppischer. Wir entdeckten Sigmund Freud und riskierten Psychotherapien. Es war unser Kulturkampf.
Heutigentages empfinde ich die mir zugänglichen Medien als barbarisch. In jeder Zeitung steht, in jedem Radiosender höre ich, in jedem Fernsehprogramm sehe ich das gleiche. Auf der Suche nach ergänzenden Informationen – „audiatur et altera pars“, vor jeder Beurteilung auch die andere Seite berücksichtigen – weiche ich auf Internetquellen aus und werde von den Gleichgeschalteten belehrt, ich sei das Opfer von Propaganda und Populismus. Kämpfe um Kultur vermissend, werde ich verächtlich gemacht.
Irgendwo habe ich dieser Tage gelesen, der stets von Unruhe geplagte Goethe habe ständig vor sich hin gegrummelt und gemurmelt: „Nur ruhig, ruhig, still!“ Ich murmele und grummele auch oft vor mich hin, und zwar „Ich will heim“.
Es ist das Heimweh nach einem Land, wo ich faire, objektive, um Wahrhaftigkeit bemühte Informationen bekomme. Ich lese die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche, die taz. Ich höre den WDR. Ich sehe ARD, ZDF und Arte und etliche andere. Überall Hetze und Hass. Überall: Krieg gegen Russland – aber um Gotteswillen nur wirtschaftlich. Krieg gegen – nein: in Syrien, Afghanistan, wo noch? Egal, unser Militär wird überall gebraucht. Fragt jemand die Russen, die Syrer, die Afghanen? Einzelne schon, alle kann man ja nicht fragen, und Umfragen wären nicht zuverlässig, weil durch Propaganda beeinflusst. Was bei uns selbstverständlich nicht der Fall ist.
Ich fühle mich zurückgeworfen in die Kaiserzeit. Ein vaterlandsloser Geselle.