Freitag, 25. Dezember 2020

Das Weihnachtswunder - im Blick einer Aufgeklärten

Dass jeder Mensch ein Anfang und Ursprung sei, wie Sankt Augustinus in Band 10 seines Buches Vom Gottesstaat erklärt, ist ein Zitat, das Hannah Arendts gesamtes Werk als Grundton durchklingt. Wunderkräftigkeit gehört zum Menschen, weil es in der Natur eines jeden Neubeginnens (neu Beginnens!) liegt, dass es vom Gewesenen her schlechterdings unerwartet und unvorhersehbar in die Welt bricht. Solch ein Ereignis nennen wir in der Alltagssprache ein Wunder. Vom Standpunkt der Vorgänge im Universum und der in ihnen waltenden Wahrscheinlichkeiten ist bereits die Entstehung der Erde eine „unendliche Unwahrscheinlichkeit“, wie Naturwissenschaftler sagen, wie etwa auch Harald Lesch immer wieder in Fernsehsendungen erläutert. Ein Wunder also. Und die Entstehung des Organischen aus den chemischen Prozessen des Unorganischen? Leben ist nicht erklärbar bis heute, ein Wunder. Die Entstehung der Spezies Mensch aus den Abläufen des Organischen? Jeder neue Anfang wird zum Wunder, sagt Arendt, wenn er erfahren wird vom Standpunkt der Prozesse, die er unterbricht. Diese Sicht sei nicht einem besonders elitären (gelehrten) Standpunkt geschuldet, sondern sei alltäglich. Dass aus kosmischen Geschehnissen keine Erde, aus anorganischen Vorgängen kein Leben, und aus der Evolution der Tierarten nicht die Spezies Mensch entsteht – das begeistete Tier namens Shakespeare oder Goethe oder Leonardo – ist überwältigend wahrscheinlicher als das uns Gegebene, Geschenkte. Die Macht, die menschlicher Freiheit, zu handeln und also neu zu beginnen, innewohnt, komme in der Predigt des Nazareners in ganz ungewöhnlicher Weise zum Ausdruck, meint Arendt. Es ist seine Freiheit, frei zu sein, und in der Welt handelnd neu zu beginnen. Von menschlicher Gabe, das „unendlich Unwahrscheinliche zu bewirken und als Wirklichkeit zu konstituieren, mag diesmal mehr abhängen als je zuvor, nämlich die Fortexistenz der Menschheit auf der Erde.“ Mit dieser Warnung beendet Hannah Arendt ihren Vortragstext „Freiheit und Politik“, auf den ich mich beziehe. Sie leitet ihn ein mit einem Zitat von Franz Kafka als Motto: „Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine; aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.“