Sonntag, 25. Dezember 2016

Neunundzwanzigster Brief: Nationalismus und Immigration

Ein fb-Freund hat neulich eine Grafik (mit-)geteilt, die besagt, dass während der letzten 116 Jahre – also seit 1900 – Deutschland zu 100 Prozent durch Nationalismus ruiniert worden sei. Die Aussage, wir hätten seither  keinerlei Schaden durch Immigration genommen, dürfte eine der üblich gewordenen pädagogischen Zurecht-Weisungen sein.
Ich meine eher, die beiden Weltkriege haben uns ruiniert - der Zweite auch moralisch. Beide galten der Sicherung preiswerter Rohstoffe und der Gewinnung von strategischem Manövrierraum. Es gab also militärische und wirtschaftliche Gründe. Diese bestehen noch immer. Deshalb die Forderung nach regime change in Russland. Putins Beseitigung durch Waffengewalt zu unterstützen, fordern transatlantische Falken. Hillary C. wollte gar Atombomben einsetzen, hat der angesehene Publizist. Tichy unwidersprochen in einem ARD-Presseclub behauptet; ich selbst habe die Aussage der gescheiterten US-Präsidentschaftskandidatin nicht recherchiert. Aber hawkish genug ist sie (gewesen! Da hatten wir Glück.) 
Im Gegensatz zur kriegsfreudigen Clinton wird Donald Trump Präsident. Er hält schuldenfinanzierte Kriege nicht für das geeignete Mittel, den Interessen der Amerikaner zu dienen. Seine Wähler haben es honoriert. Sie werden in der Weihnachtsausgabe der International NY Times als Tölpel bezeichnet („loonies“). Es ist der Aufmacher auf der Titelseite! Im Netz zu finden.
Intent on Unsettling E.U., Russia Taps Foot Soldiers From the Fringe
By ANDREW HIGGINS DEC. 24, 2016
Die zitierte Beleidigung findet sich im letzten Absatz, feige versteckt in einem Zitat.
Unsere deutschen Mainstream-Medien teilen diese Auffassung mit sehr wenigen Ausnahmen.  
Die Eliten in den Redaktionen sind überzeugt, dass Tölpel dazu erzogen werden müssen, die Interessen der Eliten zu vertreten, statt ihre eigenen erbärmlichen Sorgen wichtig zu nehmen. Tölpel haben zu lernen, dass einfache Antworten auf komplexe Probleme nicht genügen. „Wir schaffen das“ ist freilich die denkbar einfachste Antwort überhaupt, die auf sehr komplexe Probleme gegeben werden konnte.   


Achtundzwanzigster Brief - Heilige Nacht? Was wir glauben. Und was nicht. Und was das mit Kriminalromanen zu tun hat.


Gläubige haben in Auschwitz der SS standgehalten, erinnert sich der jüdischstämmige österreichische Schriftsteller Jean Améry in seinem bedeutenden Essay "An den Grenzen des Geistes". Wer an Gott glaubte oder an den Sieg des Sozialismus, fühlte sich durch die Unmenschlichkeit sogar noch in seiner längst gefestigten Überzeugung bestätigt. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium müsse zur Entmenschung notwendig führen, hatten die Marxisten schon in den Weimarer Jahren gewarnt. Gottgläubige waren angesichts zunehmender Gottlosigkeit auf moralische Verkommenheit und Verrohung vorbereitet.
   Intellektuelle hingegen seien zerbrochen, schreibt Améry. Er meint auch sich selbst. Der philosophisch geschulte Agnostiker erblickte im SS-Staat die Verwirklichung einer Idee, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Sein Humanismus zählte nicht mehr. Als Wehrloser wurde er sich selbst verächtlich.
   Nach der Befreiung quälten ihn "Ressentiments" - so der Titel eines zweiten bedeutenden Essays. Er verachtete die Täter, sie inszenierten sich als Opfer von Befehlsnotständen.
   Auch ich verachtete sie. Dabei machte ich eine Entdeckung. Ich hätte gern Rache genommen. Die unschuldig tuenden Täter hatten meiner Generation dieses furchtbare Erbe hinterlassen, diese entsetzliche Schuld. Ganz und gar stimmte ich Ravic in Remarques Roman „Arc de Triomphe“ zu, der seinen ehemaligen KZ-Quäler umbringt.
   Ich fand also einen Mörder in mir vor. Das war kein Ravic, der den Schinder erschießt. Ich hatte ja keine Schusswaffe.
   Meine Waffe war das geschriebene Wort.
   In meinen ersten Kriminalroman habe ich einen Mörder eingebracht, der als Opfer posiert. Scheinheilige Killer kannte ich zur Genüge. Aus der Universität, wo sie Vorlesungen hielten. Aus Redaktionen und Verlagen, wo sie meine Vorgesetzten waren.
   Aber es war ein Haken dabei. Literatur, wenn  sie ehrlich ist, zwingt zur Selbsterkenntnis. Davor darf der Autor sich nicht drücken. Ich musste selbst einen Mörder in mir haben, begriff ich, wie ich sie in meiner gesellschaftlichen Umgebung so oft vorgefunden habe. Ich hätte den Widerling sonst nicht in diesen Kriminalroman auslagern können.
    Dass ich ihn auslagern konnte, den larmoyanten Unhold, war ein erster Schritt auf der langen Straße zur Befreiung von dem Bedürfnis nach blutiger Rache. Die Kämpfer der Roten Armee Fraktion sind diesem Bedürfnis erlegen.
   Jean Améry ist seinen Ressentiments erlegen. Er war zu vernünftig, um sich von blutigen Rachefeldzügen anderes zu versprechen als nur die Verdoppelung nazihafter Verrohung. Ausdrücklich warnte er vor Aktionen wie denen der RAF.
   Was aber tun, wie sich helfen? Verachtung für die Schergen, die ihn gequält hatten, empfand er wie so viele meiner Generation der Achtundsechziger. Doch eben diese Schergen waren nun seine Gönner! In großen Sendern und bedeutenden Zeitschriften konnte er veröffentlichen, was ihn beschäftigte. Sollte er einen Hans Egon Holthusen öffentlich demütigen, weil der sich zur SS bekannt hatte, deren Mitglied er gewesen war? Holthusen war nun Präsident der Bayerischen Akademie der Künste und überreichte Jean Améry eine Auszeichnung. Auch Geld floss.
   Hätte Améry ablehnen sollen? Er hat es, weshalb auch immer, nicht über sich gebracht. Dabei hatte Holthusen einen wüsten Hetzartikel gegen Thomas Mann veröffentlicht. Und Améry hat Thomas Mann höher geschätzt als jeden anderen modernen Autor. Dennoch, er nahm den Preis aus Holthusens Hand entgegen ... Und seine Ressentiments wurden  immer unerträglicher.  Weshalb ließ er das zu?  
   Seine Vernunft warnte ihn vor einem drastischen Schritt, wie übrigens Mascha Kaléko ihn getan hat, die Lyrikerin. Sie hat von einem SS-Mann keinen Preis haben wollen.
   Améry war bei seinen Begegnungen mit Schergen, die ihn nun nicht mehr in die Gaskammer schicken, sondern auszeichnen wollten, etwas bewusst geworden. Er selbst hatte einen Mörder in sich. Einen Rächer. Doch seine Vernunft stoppte jede Regung dieser Art und erstickte sie förmlich in ihm.
    Als Autor darf ich meine Phantasie spielen lassen. Ich stelle mir vor, ich hätte mit Améry sprechen können.
   Machen Sie es wie ich, hätte ich ihm geraten. Schildern Sie einen Unhold, wie Sie ihn zuerst in Auschwitz und später erleben mussten, in einem Kriminalroman! Stellen Sie den Unhold von sich weg, indem Sie ihn zu Papier bringen!
   Und was ist der Unterschied zwischen einem Roman und einem Kriminalroman?, fragt er.
   Das ist typisch für ihn, den analysierenden Rationalisten und Positivisten.
   Für mich ist es eine Steilvorlage.
   Gehen Sie in eine Buchhandlung und fragen Sie nach einem Kriminalroman, sage ich. Man wird Sie zu einem Regal führen. Aber fragen Sie nicht danach, wie ein Kriminalroman definiert wird. Denn das kann niemand. Es führt zu einer Dekonstruktion. Am Ende landen Sie dabei, dass Kriminalgeschichten bereits in er Bibel stehen. Aber niemand, der einen Kriminalroman verlangt, bekommt im Buchladen eine Bibel in die Hand gedrückt. Denn was ein Kriminalroman ist, erfährt man nicht durch analytische Dekonstruktion, man weiß es aus Erfahrung.
   Es ist wie mit der Liebe, fahre ich fort. Dekonstruktion führt zu der Schlussfolgerung, Liebe sei eine unterbewusste Neurose, die sich zu einer anderen unterbewussten Neurose hingezogen fühlt – unterbewusst. So in einem wunderbaren Film, wo es als Witz gemeint ist.
   Erlauben Sie niemals, lieber Jean, spreche ich weiter – erlauben Sie niemals Ihrer Vernunft, Ihre Erfahrungen zu entwerten. Das ist Hamlets Krankheit!
    Leider hat das Gespräch nie stattgefunden. Améry blieb dabei, seine Ressentiments auf rationalem Wege auflösen, das heißt: wegdenken zu wollen.    
    Hätte er einen verhassten Unhold in sich selbst eingestehen müssen, um ihn literarisch darzustellen?
   Aber das ist Spekulation. Tatsache ist leider, dass der große Kollege sich vergiftet hat.
   Gläubige, hinterlässt er uns, waren sogar dem extremen Terror in Auschwitz gewachsen. Sie sind von einer Zukunft überzeugt, sei sie irdisch oder überirdisch.
  Intellektuelle nicht. Sie zerbrechen an der Gegenwart.


Mittwoch, 30. November 2016

Siebenundzwanzigster Brief

Freie Medien? Es gibt sie. Die große deutsche Journalistin Margret Boveri gab dazu einen wichtigen Hinweis: "Wir alle lügen Sie an, und es ist Ihre Sache, aus den verschiedenen Dingen, die Sie hören, die Wahrheit herauszufinden." Freie Medien sind demnach unsere eigenen Köpfe: wir selbst als Empfänger und Verbraucher von Informationen.
Wir verlassen uns auf Journalisten, die allerdings Zwängen unterliegen. Dafür ein Beispiel, das nicht jeder kennt.
Einer der bedeutendsten deutschen Journalisten überhaupt, Mentor und Freund Margret Boveris, war Paul Scheffer. Wohlhabend von Haus aus, war er konservativ. Politisch interessiert, knüpfte er Beziehungen zu Politikern auch "linker" Parteien und zu Diplomaten. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war er für das Berliner Tageblatt langjährig in Moskau als Korrespondent tätig. Er berichtete über den Aufbau des weltweit neuartigen sozialistischen Wirtschaftssystems. Nicht nur Unterdrückung und Misserfolge wurden von ihm registriert, auch die Stabilisierung der neuen Gesellschaftsordnung. Seine glänzend beobachteten und geschriebenen Berichte ergaben eine Chronik vieler Entbehrungen und langsam sich einstellender Erfolge.
Besonders letztere irritierten in Berlin. Der legendäre Chefredakteur Theodor Wolff ermahnte seinen Korrespondenten, doch bitte mehr Rücksicht auf deutsche Wirtschaftsführer zu nehmen. Einige hätten die Zeitung bereits abbestellt, um nicht lesen müssen, was ihnen widerstrebte: dass der Sozialismus die Zustimmung großer Teile der russischen Bevölkerung fand.
Berliner Vorstandsvorsitzende und Bankiers schlossen messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
Musste Scheffer sich dem Druck der Redaktion beugen? Wollte er es? Jedenfalls scheint er gegenüber dem Moskauer Regime zunehmend kritisch geworden zu sein. Der Kreml erklärte ihn für unerwünscht. Unter den Nazis wechselte Scheffer nach New York und berichtete von dort. Er hat den Zweiten Weltkrieg überlebt.
Einzelheiten sind nachzulesen in einer wissenschaftlichen Untersuchung von Bärbel Holtz, "Paul Scheffer und die UdSSR". Ich habe die Quelle im Netz gefunden, die Arbeit aber nur als Druck bestellen können. Sehr interessant, wenn man sich - wie ich - professionell für die Freiheit der Informationsbeschaffung einsetzt und dabei keine allzu groben Fehler machen möchte.


 

  

Dienstag, 29. November 2016

Sechsundzwanzigster Brief

Ver-rückte Welt

(Zivil-)Religiöser Fanatismus war das Thema eines Vortrags von Theologieprofessor Rolf Schieder an der Universität Konstanz im Jahr 2013; der Vortrag ist jetzt im Rahmen der Reihe Tele-Akademie mehrmals wiederholt worden, vermutlich seiner Aktualität wegen.
Schieder fragte nach dem spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens. Das Problem stelle sich immer dann, wenn Särge aus Afghanistan zurück kommen, meinte er.  Wofür, frage man, hat dieser junge Mensch sein Leben geopfert? Wie legitimieren wir unseren  Anspruch, dieses letzte und höchste Opfer zu fordern?
Schieder bereitet eine Problemanzeige vor.
Er befürchtet, dass wir an einer negativen Selbstbeschreibung unserer „Werte“ festhalten. In USA sei das anders … Und nicht nur dort, füge ich hinzu. In Großbritannien definiert man seinen spirituellen Kern, seine Grundwerte,  für die es sich lohnt, sein Leben zu opfern, seit der Bill of Rights als das Recht auf Schutz der Privatsphäre auch gegenüber dem König, heute dem Staat; in USA an unwiderrufbaren Rechten, mit denen laut Thomas Jeffersons Formulierung in der Erklärung der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien alle Menschen ausgestattet sind, und zwar von ihrem Schöpfer, der über weltlichen Mächten steht; und in Frankreich an der Aufklärung und ihren politischen Konsequenzen.
Nicht so bei uns. Wir Deutschen binden den spirituellen Kern unseres politischen Gemeinwesens nicht an ein affirmatives, sondern an ein negatives Narrativ: an die Shoa.
Während ein Brite, ein US-Amerikaner, ein Franzose zu dem, was im Freiheitskampf gegen Obrigkeiten geleistet wurde, voller Stolz erklärt: Immer wieder!, sagen wir Deutschen: Nie wieder. Nie wieder Antisemitismus.
Man braucht dieses Wort nur auszusprechen, schon schlagen einem Wellen öffentlicher Erregung entgegen, führt Schieder aus und nennt Beispiele. Martin Walser, Günter Grass, Jakob Augstein sei Antisemitismus vorgeworfen worden, nachdem sie Zweifel am Gebrauch oder Missbrauch der Formel angemeldet hatten! Schieder spricht von einem Exkommunikationsbegriff (er ist Theologe) und fühlt sich an die Inquisition erinnert: Wer Glaubenszweifel äußert, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – ja auch schon jeder, dem der Tabubruch unterstellt wird, sei in Gefahr der Exkommunikation!
Hier möchte ich in meiner Zusammenfassung des Vortrags kurz innehalten und daran erinnern, dass der Vortrag 2013 gehalten worden ist! Inzwischen gibt es weitere Tabus. Der Begriff Nazi ist dazugekommen. Nationalsozialistischer Gesinnung oder Tendenzen machen sich Parteien verdächtig, deren demokratische Verdienste seit Jahrzehnten bewährt sind, wie die CSU; demokratisch noch wenig bewährte Gruppierungen werden als Nazi bezeichnet, wenn ihre Ziele denen der CSU vergleichbar sind, und zwar auch dann, wenn der Verfassungsschutz ihre Beobachtung ablehnt.
Um auf Schieder zurückzukommen: Er sagt, wir seien sehr gut darin, uns der toten Juden zu erinnern, doch verkrampft im Umgang mit den heute lebenden Juden.
Ich möchte das im Licht der inzwischen verflossenen drei Jahre erweitern und ergänzen: Wir sind gut darin, uns der Abschaffung unserer Demokratie voller Schrecken zu erinnern. Aber verkrampft im Ungang mit den aktuellen Gefahren für unsere Demokratie.
Gutwillige Deutsche merken nicht, dass sie in einer ver-rückten Welt leben. In einer Welt, die weggerückt ist aus der Gegenwart und ver-rückt in die Jahre 1922-33. Sie meinen, Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus heute – jetzt – bekämpfen zu müssen, obgleich unsere wehrhafte Demokratie Nazis staatspolizeilich verfolgt und unser Rechtssystem ihre Ideologie und Symbole verbietet.
Freilich gibt es Rechtsbrecher. Auch solche, die sich juristischer und polizeilicher Verfolgung zu entziehen verstehen. Einbrecherbanden, die schwer zu fassen sind. Autodiebe, die sich nach Polen absetzen. Gegen sie zu demonstrieren ist noch niemand eingefallen, man fordert allenfalls bessere Polizeiarbeit.
Wir sollten – sagt Schieder – uns zur Shoa endlich ein historisch-kritisches Bewusstsein erlauben. Ich meine, nicht nur zu Shoa, auch zum ideologisch vagen Begriff nationalsozialistischer Tendenzen. Sie einem Horst Seehofer zu unterstellen, wie es Medien tun, die sich in demokratischer Rechtgläubigkeit behaglich einrichten, erschüttert das Vertrauen in diese Medien. Niemand glaubt ihnen mehr. Wer lange in Bayern gelebt hat, wie ich, und dort politisch tätig war, und zwar in Opposition zur CSU, kann nur den Kopf schütteln. Man spricht dann von Lügen-Medien.
Mit Exkommunikationsformeln, Moralkeulen und inquisitorischen Methoden wird unser Gemeinwesen nicht gestärkt, es wird untergraben.
Ver-rückte Welt.


Samstag, 26. November 2016

Zum Hinschied Fidel Castros

Das mächtige Rom beherrschte die ganze Welt. Nur in einem kleinen gallischen Dorf ...

Was die kubanische Revolution zum Sieg führte, zeigt Sidney Pollacks Film Havana. Robert Redford versteht die Revolution nicht, er sagt: Es ist, als lebe man in Leitartikeln, in einer Idee, der Alltag ist anders. Die Revolutionärin antwortet: Es ist keine Idee, es ist wie ein Lied, das Menschen gemeinsam singen.
In Richard Lesters Film Explosion in Kuba wird Sean Connery als Anti-Terror-Spezialist vom Befehlshaber der Batista-Armee engagiert. Connery warnt ihn: Einen Krieg gegen Aufständische gewinnt man nur, wenn man im Recht ist. Der General: Zweifeln Sie daran, dass wir im Recht sind? Connery: Es kommt darauf an, ob die Kubaner es glauben.

Sehr empfehlenswert auch der letzte Film, den Errol Flynn gedreht hat: Die Wahrheit über Fidel Castros Revolution.

Jetzt noch eine Strophe aus einem Lied, das ich auf einer LP der Arbeiter-Musik-Assoziation gefunden habe:

Ja sie dachten es sich schön
immer höhere Profite
aus den Häusern aus der Miete
und das Volk kann barfuß gehn
Und brutal warn sie zur Stell
dass sich nicht ihr Beutel leerte
wenn der arme Mann sich wehrte
doch oh weh da kam Fidel



 

Dienstag, 22. November 2016

Fünfundzwanzigster Brief

Wer ein Meinungsdiktat in Deutschland vermutet, hängt einer neurechten Einstellung an - meldet meine Lokalzeitung am heutigen 22.11.16. Naja, also in USA war es so:
Eine Liste der fünfzig bedeutendsten Tageszeitungen der USA ergibt, dass keine einzige die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten empfohlen hat. Einige wenige haben keine Empfehlung aussprechen wollen. Die meisten aber haben nachdrücklich Hillary Clinton empfohlen. Die Begründungen ähneln sich auffallend. Sie sind im Netz zu finden.
Und bei uns schreiben auch alle, die ich überblicke, das Gleiche. Von einem "Diktat" auszugehen, erscheint nicht ganz unsinnig, ist wohl eher ein "educated guess". Aber wer diktiert?! Dazu möchte ich einen der derzeit besten deutschen Journalisten zitieren. Es ist der Kulturkorrespondent Peter Richter. Er lebt in New York und hat während des Wahlkampfes brillant geschriebene Stimmungsbilder geliefert, sogenannte Features.
Wie er nach Trumps Wahlsieg in einem Tagebuch-Beitrag mitgeteilt hat, schwante ihm schon Wochen vor dem Ausgang, dass Trump gewinnen könnte und dass die Medien - besonders auch die deutschen - mit ihrer Voraussage eines Sieges für Hillary falsch lagen.
Und er hat es auch seinen Ressortchefs mitgeteilt, allerdings nur privat am Telefon. "Ruft sie an und fragt sie", scherzt er. "Nein, ruft nicht an, sie haben zu arbeiten."
Er meint die Ressortchefs für Außenpolitik und Kultur.
Weshalb wagte er es nicht, seinen Lesern mitzuteilen, was ihm schwante?  Er habe befürchten müssen, in Verruf zu geraten, schreibt er nach der Wahl. Man komme dann leicht in den Verdacht, sich durch abwegige Spekulationen interessant machen zu wollen. Oder noch schlimmer: ein Anhänger Trumps zu sein. Womöglich autoritär geprägt, denn er ist in der DDR aufgewachsen.
Da er weder das eine noch das andere riskieren mochte, blieb es bei privaten Telefonaten, und die Leser erfuhren nicht oder konnten allenfalls erraten, was ihr Amerika-Korrespondent für möglich hielt.

Zu alledem muss man wissen, dieser brillante Journalist veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung. Deren außenpolitisches Ressort wird von Stefan Kornelius geleitet, einem vielfach mit amerikanischen Thinktanks vernetzten Kollegen, siehe das Buch "Meinungsmacht" von Uwe Krüger. Das Kulturressort ist gelegentlich aufmüpfig und wird deshalb imstande sein, Richters Beiträge zu akzeptieren - aber nur dann, wenn er es nicht zu weit treibt. Denn die Süddeutsche wie auch unsere anderen großen Blätter sind überzeugt - wie mir scheint -, dass ein regime change in Moskau (und Peking!) mit allen, wirklich allen Mitteln anzustreben ist. Hillarys "hawkishness", ihre Bereitschaft zu militärischen Interventionen, stört dort nicht. Trumps Bereitschaft zur Verständigung hingegen erscheint skandalös. 
Diese letztere Haltung ist eigentlich nur zu begreifen, wenn Putin mit Adolf Hitler gleichgesetzt wird - was Clinton getan hat. Dann ist jede diplomatische Bemühung "Appeasement". Und wer so dumm ist, einen nach Weltherrschaft strebenden, machtbesessenen Diktator appeasen zu wollen, der wird genauso scheitern wie damals der britische Premier Chamberlain.
Die Schlussfolgerung ist also nur nachvollziehbar, wenn die Voraussetzung akzeptiert wird.
Diese wäre umso genauer zu überprüfen - was jedoch nicht geschieht. Von Beweisen für das sonderbare Narrativ habe ich noch nichts gesehen, Widerlegungen hingegen gibt es so viele, wie mein Arm lang ist.
Nützt nichts, das Narrativ wird unbewiesen und trotz vielfacher Widerlegung  übernommen.
Mit der Begründung, dass wir einen Menschheitsverbrecher "stoppen" müssen, werden wir seit Jahren auf einen Feldzug gegen Russland vorbereitet.
Es wäre der dritte Versuch deutscher Politiker, mithilfe ihrer Wirtschaftsmacht und ihrer Soldaten Russland unter Kontrolle zu bringen. Die Versuche sowohl unseres Kaisers wie unseres "Führers" sind gescheitert. Dass es diesmal gelingen würde, dafür stand Hillary. 
Hat gestanden, darf ich wohl hoffen. Der Krieg ist noch nicht vorbei, aber ein Weltkrieg findet nicht statt.    


  

Dienstag, 1. November 2016

Vierundzwanzigster Brief

Ob es wohl sinnvoll ist, wenn ich weiterhin Tatsachen in den Zusammenhang einordne, in den sie gehören? Wenn ich Schlussfolgerungen zurückweise, die sich auf die Grundlage vereinzelter, von ihrem Zusammenhang abgesplitterter, Fakten stützen? Wenn ich stattdessen das zugehörige Narrativ, den richtigen Kontext, liefere?
Vermutlich beruhige ich mich nur selbst und erreiche gar nichts.
In meiner Abonnementszeitung las ich vor wenigen Tagen, niemand wisse, wie man Jugendliche davon  abhalte, sich islamistisch zu radikalisieren. Das ist gängiger Unsinn. Jeder weiß, wie man Jugendliche davon abhält, Terroristen zu werden. Man braucht nichts zu tun, nur etwas zu unterlassen. Hören wir auf, die Heimatländer dieser jungen Menschen zu zerbomben, wie es die Nato auf Drängen der USA tut. Seit fünf Jahren in Syrien.
Hören wir auf, Umstürze in fremden Ländern zu betreiben.
Übrigens sind die von uns wütend betriebenen und mit Lügen begründeten regime changes in fremden Ländern verfassungswidrig. Denn unsere Verfassung verbietet verbietet die Angriffskriege, die wir führen. Doch niemand zieht unsere Regierung dafür zur Verantwortung.
Die Medien wären dazu verpflichtet, doch sie rufen zu neuen Zerstörungen in weiteren Ländern auf. Vor allem in Syrien und parallel in Russland sollen endlich regime changes gelingen. Niemand fragt, ob die Bevölkerung von Damaskus unter der Herrschaft der Scharia leben will. Oder die russische Bevölkerung unter der Herrschaft der westlichen Kriegsindustrie.
Es hat auch keinen Sinn - keine Wirkung - wenn ich zu bedenken gebe, dass die responsibility to protect völkerrechtlich nur dann einen Angriff auf ein fremdes Land rechtfertigt, wenn der UN-Sicherheitsrat so beschließt. Er hat es nicht getan.
Wir werden an ständige Aufrüstung gegen Russland gewöhnt - obgleich die militärische Überlegenheit der NATO bereits jetzt riesig ist.
Bricht der Krieg aus, werden diejenigen, die ihn begünstigt haben, die Verursachung nicht bei sich selbst suchen. Der Jude ist schuld, hieß es früher einmal bei uns und anderswo in Europa. Der Russe ist schuld, heißt es jetzt. Niemand nimmt Anstoß an der Gleichartigkeit der Slogans.
Psychiatrische Ferndiagnosen sind in unseren Medien täglich zu finden. Putin sei machtbesessen. Oder man liest Gedanken und unterstellt aggressivste Absichten, die er hege. Das ersetzt vernunftgestützte Recherche.
Donald Trump hat versprochen, die Kriegspolitik der USA durch Friedenspolitik zu ersetzen. Mit Hass, Hohn und Häme haben unsere Medien es beantwortet. Bei Hillary Clinton ist die Kriegsindustrie mit gewaltigen Beträgen in Vorleistung gegangen. Die Kandidatin hat akzeptiert und wird liefern müssen. Die Unterstützung unserer Medien ist ungeteilt.
Wer sich gegen weitere regime changes durch Sanktionen oder durch Kriege ausspricht, wird bei uns als links- oder rechtspopulistisch denunziert. Kaum jemand in unseren Leitmedien wagt es. Wer es doch riskiert, ist seinen guten Ruf schnell los.
Soweit mein Bericht zur Lage eine Woche vor den Wahlen in USA.
Warum gebe ich ihn überhaupt? Damit ich doch irgendetwas getan habe, um meiner Verantwortung als gelernter Journalist und aktiver Literat gerecht zu werden.
's ist leider Krieg und ich begehre/ nicht schuld daran zu sein. 

Sonntag, 4. September 2016

Zweiundzwanzigster Brief

Mit ihrem Kampf für den ,,Sieg der Vernunft", gegen Lüge und Dummheit, wie Erika
Mann die antifaschistische Position der Pfeffermühle bestimmte, wandte sie sich in erster Linie an ein bürgerliches Publikum, das die Brandzeichen der Zeit nicht wahrnahm oder ignorierte. Diese Absicht ist an vielen Texten ablesbar, so an Erika Manns Solonummer ,,Der Prinz von Lügenland":

Bei mir daheim im Lügenland
Darf keiner mehr die Wahrheit reden,
Ein buntes Netz von Lügenfäden
Hält unser großes Reich umspannt.
Bei uns ist's hübsch, wir haben's gut,
Wir dürfen unsre Feinde morden.
Verleih'n uns selbst die höchsten Orden
Voll Lügenglanz und Lügenmut.
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,
Wer immer lügt, dem wird man glauben.
Zum Schluß läßt sich's die Welt nicht rauben,
Daß er die lautre Wahrheit spricht  …"

Und am Ende, die Zuschauer beschwörend:
,,Glaubt ihnen nicht!
Schleudert die Wahrheit
lns Lügengesicht!
Denn die Wahrheit ganz allein kann's machen!"



Samstag, 20. August 2016

Einundzwanzigster Brief


Emile Zola: „La vérité est en marche, et rien ne l’arrêtera.“

Modifiziert von Georg Lukásc 1957 in seinem Postscriptum in MEIN WEG ZU MARX:
„La vérité est lentement en marche, et à la fin des fins rien ne l'arrêtera.“

„Es geht offensichtlich einem neuen Krieg entgegen“, warnte Josef Stalin bereits Anfang 1934 den XVII. Parteitag der KPdSU (B). Wie 1914 hatten aggressive Mächte begonnen,  eine Neuaufteilung der Weltmärkte durch Krieg zu erzwingen. Stalin:
„Der Krieg Japans gegen China, die Okkupation der Mandschurei, der Austritt Japans aus dem Völkerbund und der Vormarsch in Nordchina haben die Lage noch mehr verschärft. Die Verschärfung des Kampfes um den Stillen Ozean und das Anwachsen der Rüstungen zur See in Japan, den Vereinigten Staaten, England, Frankreich bilden das Ergebnis dieser Verschärfung.“
„Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und das Revanchegespenst haben einen neuen Anstoß zur Verschärfung der Lage und zum Anwachsen der Rüstungen in Europa gegeben.“
Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt betont Stalin, dass die Sowjetunion bereit sei, mit jedem Staat Friedensverträge abzuschließen. Sie werde konsequente Aufbaupolitik des eigenen Landes betreiben und sich nicht in fremde Händel verstricken lassen. 
Also schon 1934 wird die Möglichkeit eines Friedensvertrages auch mit Nazi-Deutschland konstatiert:
„Gewiss, wir sind weit davon entfernt, von dem faschistischen Regime in Deutschland entzückt zu sein. Doch handelt es sich hier nicht um den Faschismus, wie allein die Tatsache zeigt, dass der Faschismus zum Beispiel in Italien für die UdSSR kein Hindernis war, die besten Beziehungen zu diesem Lande herzustellen. Es handelt sich auch nicht um vermeintliche Änderungen in unserer Stellung zum Versailler Vertrag. Uns, die wir die Schmach des Brester Friedens ausgekostet haben, liegt es fern, den Versailler Vertrag zu lobpreisen. Nur sind wir nicht damit einverstanden, dass die Welt dieses Vertrages wegen in den Abgrund eines neuen Krieges gestürzt werde. Dasselbe ist von der vermeintlichen Neuorientierung der UdSSR zu sagen. Wir hatten keine Orientierung auf Deutschland, ebenso wenig wie wir eine Orientierung auf Polen und Frankreich haben. Wir orientierten uns in der Vergangenheit und orientieren uns in der Gegenwart auf die UdSSR und nur auf die UdSSR. (Stürmischer Beifall.) Und wenn die Interessen der UdSSR eine Annäherung an diese oder jene Länder erheischen, die nicht an der Störung des Friedens interessiert sind, so sind wir dazu, ohne zu schwanken, bereit.“
Winston Churchill wusste, welch ungeheure Gefahr den Demokratien drohte, falls sie das Waffenbündnis mit Stalin ablehnten. Daher sein leidenschaftliches Eintreten für die Annahme des Angebots vom 10. März 1939.
Stalin  hatte sich bereits fünf Jahre zuvor eine zweite Option vorbehalten: den Nichtangriffspakt mit dem Dritten Reich. Und was Churchill bekannt war, wusste auch Hitler. Kurz bevor er am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg auslöste, schickte er seinen Außenminister zu Friedensverhandlungen nach Moskau. Der Abschluss des Paktes schockierte die europäische Linke. Sie hatte nicht gelernt, Tatsachen zu lesen.
Dass aber Stalin von Anfang an Hitlers Rassengreuel gutgeheißen haben soll, scheint nicht zu stimmen. Stalin 1934:
"Bekanntlich blickte das alte Rom auf die Vorfahren der heutigen Deutschen und Franzosen genauso, wie jetzt die Vertreter der „höheren Rasse“ auf die slawischen Stämme blicken. Bekanntlich betrachtete das alte Rom sie als „niedere Rasse“, als „Barbaren“, die dazu bestimmt seien, für alle Ewigkeit der „höheren Rasse“, dem „Großen Rom“, unterworfen zu sein, wobei übrigens - unter uns gesagt - das alte Rom dazu einigen Grund hatte, was man von den Vertretern der jetzigen „höheren Rasse“ nicht sagen kann. (Beifallssturm.) Was ist aber dabei herausgekommen? Herausgekommen ist dabei, dass sich die Nichtrömer, das heißt alle „Barbaren“, gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlossen und Rom über den Haufen rannten. Es fragt sich: Wo ist die Garantie, dass die Prätensionen der Vertreter der jetzigen „höheren Rasse“ nicht zu denselben kläglichen Ergebnissen führen werden? Wo ist die Garantie, dass die schriftstellernden faschistischen Politiker in Berlin mehr Glück haben werden als die alten kampferprobten Eroberer in Rom? Wäre es nicht richtiger, das Gegenteil anzunehmen?"   
Quelle: Rechenschaftsbericht des ZK an den XVII. Parteitag der KpdSU (B). Auszüge. Der gesamte Text unter stalinwerke.de im Internet. Band 13 anklicken.

Die Gastgeberin der deutschen Emigration in USA, Salka Viertel, in ihren Lebenserinnerungen „Das unbelehrbare Herz“, spricht günstig über die Behandlung von Juden in der Ukraine unter sowjetischer Besatzung:

„Der letzte Akt der grauenhaften deutschen Tragödie, der Nürnberger
Prozeß, ging zu Ende. Es war erstaunlich, wie wenig Interesse er er-
weckte.
Überlebende aus Dachau und Auschwitz trafen in den Vereinigten
Staaten ein - kläglich wenige nur. Die eintätowierten Zahlen an ihren
Armen, ihre Augen, in denen noch die Schrecken geschrieben standen,
die sie gesehen hatten, bereiteten mir schlaflose Nächte.
Mr. Warner erzählte uns, wie er auf einer vor kurzem unternomme-
nen Europareise Matisse besucht und spottbillig Bilder französischer
Maler gekauft hatte. Dann kam die Rede auf die kommunistische Gefahr,
und Warner sagte, der Antisemitismus in Rußland sei ebenso brutal und
grausam wie in Deutschland. Immer noch würden Tausende von Juden
umgebracht. Ich erwiderte, ich wisse von meiner Mutter, die zwei |ahre
unter sowjetischer Herrschaft gelebt hatte, daß ofliziell kein Antisemitis-
mus existiere und es keine Pogrome gebe. In meiner Heimatstadt Sambor
seien die Juden während der sowjetischen Besetzung anständig behandelt
worden. Als ich erwähnte, daß meine Mutter seit 1941 bei mir lebte,
wollte Warner wissen, wie ich sie herausgeholt hatte, doch mein Mitau-
tor unterbrach mich und sagte lächelnd: «Salka ist Kommunistin, Mr.
Warner.» Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es klang wie ein Angriff;
Blanke kam mir sofort zu Hilfe. «Das ist sie nicht !» sagte er. «Es bedeutet
doch nicht, daß man Kommunist ist, wenn man die Ansicht vertritt, daß
man den sowjetischen Antisemitismus nicht mit den Verbrechen der
Nazis vergleichen kann.»
«Man kann ihn aber durchaus mit dem Antisemitismus in Amerika
vergleichen», sagte ich. «Er ist in Rußland ebenso verfassungswidrig wie
hier und trotzdem nicht auszumerzen. Ich glaube, alle waren meiner
Meinung, denn niemand leugnete, daß es in Amerika Antisemitismus
gab, und damit war die Diskussion beendet. Die Probevorführung war ein
großer Erfolg, und Mr. Warner sagte mir, daß er das Drehbuch ausge-
zeichnet finde. Es war das letzte Mal, daß ich in einem großen Studio
arbeitete.

Quelle: Salka Viertel, Kapitel 42 in „Das unbelehrbare Herz“,
Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films.
1970 Claassen Verlag, 1979 Rowohlt TB.


Freitag, 19. August 2016

Zwanzigster Brief


"The truth is incontrovertible. Malice may attack it, ignorance may deride it, but in the end, there it is." Winston Churchill

Ich habe gelernt, Tatsachen zu lesen. Also nicht, was hier oder dort als Tatsache gemeldet wird, sondern was Tatsachen sind und nicht Faktoide. Dass ich richtig liege, merke ich, wenn Prognosen, die ich auf zwei Jahre ansetze, sich in oder nach dieser Zeit als zutreffend erweisen.
Es gibt aber einen überzeugenderen Beweis. In Zeitungsbeiträgen, die Winston Churchill alle vierzehn Tage von 1936 an in vielen Ländern veröffentlicht hatte, war aufgelistet, dass der deutsche Führer und Reichskanzler Adolf Hitler den Krieg vorbereitete. Die Engländer und insbesondere ihre Regierung unter Premierminister Neville Chamberlain wollten damals glauben, dass Hitler den Frieden wollte - wie dieser das immer wieder in öffentlichen Reden versicherte und durch seine Diplomaten in London vortragen ließ.
Churchill begründete zahlengenau, dass Hitler den Krieg plante. Einen Krieg, für den England nicht vorbereitet und nicht gerüstet war, und den es nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit verlieren würde – falls die Regierung nicht sofort umsteuerte, um England zu retten.
Doch die Regierung hörte auf Churchill nicht, er war als Kriegstreiber verschrien, Chamberlain und seine Minister verachteten ihn geradezu. Er sei, hieß es in der auf Regierungskurs gleichgeschalteten britischen Presse, aus bloßer Eitelkeit darauf aus, sich wichtig zu machen, sich in den Vordergrund zu spielen: ein Clown, der die von ihm und niemand sonst (so hieß es allenthalben!) verschuldete furchtbare Kriegsniederlage gegen Deutschland und die mit ihm verbündete Türkei bei Gallipoli vergessen machen wolle.   
Tatsachen fielen nicht ins Gewicht gegen diese massive Propagandawelle.

Endlich am 10. März 1939 pflichtete ein einziger ausländischer Regierungschef Churchill bei. Es war Josef Stalin. Auch er warnte öffentlich vor einem Weltkrieg und verband seine Warnung mit einem Angebot an die nichtaggressiven Staaten, England und Frankreich vor allem, mit Sowjetrussland ein Waffenbündnis zu schliessen. Eine solche Allianz werde die aggressiven Staaten Japan, Italien und Deutschland davon abhalten, ihren bereits begonnenen Weltkrieg auf Europa auszudehnen.
Japan hatte Nordchina besetzt, Italien Abessinien, Deutschland Nordspanien angegriffen. Der Krieg reichte also bereits vom fernen Asien über Afrika bis an die Atlantikküste, weshalb Stalin vom bereits begonnenen Weltkrieg sprach.
Churchill reagierte mit leidenschaftlicher Vehemenz.


Quelle :
Winston S. Churchill
SCHRITT FÜR SCHRITT
1936-1939
2. Auflage 1940
ALLERT DE LANGE
AMSTERDAM

Im Original: Step by Step.
Ins Deutsche übertragen von Franz Fein


DAS RUSSISCHE GEGENGEWICHT

4. Mai 1939

(Auszug)
Die Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffs-
paktes von 1934 ist ein ausserordentlich ernster und bedroh-
licher Schritt… Stillschweigend wird damit Polen zu ver-
stehen gegeben, dass es jetzt in der Zone potentieller An-
griffe liegt...
Aber der Regierung Polens muss mit der grössten Deut-
lichkeit klargemacht werden, dass die ernsthafte und gründ-
liche Mitarbeit Sowjetrusslands im Friedensblock der Na-
tionen für die Verhütung des Krieges ausschlaggebend sein
kann und auf jeden Fall für den Enderfolg notwendig sein
wird…
Vor allem darf keine Zeit verloren werden. Schon sind
zehn, zwölf Tage vergangen, seitdem das russische Angebot
gemacht wurde…
Ohne die aktive Mithilfe Russlands gibt es keine Möglich-
keit, eine Ostfront gegen Naziangriffe aufrecht zu erhalten.
Russland hat das grösste Interesse daran, die Durchführung
von Herrn Hitlers Anschlägen in Osteuropa zu verhindern.
Noch sollte es möglich sein, alle Staaten und Völker von der
Ostsee bis zum Schwarzen Meer in einer gemeinsamen festen
Front gegen neue Frevel oder überfälle zusammenzu-
schliessen. Eine solche Front kann, wenn sie mutig und mit
energischen, wirksamen militärischen Massnahmen errichtet
wird, im Verein mit der Macht der Weststaaten noch Hitler,
Göring, Himmler, Ribbentrop, Göbbels & Co. Kräfte gegen-
überstellen, die das deutsche Volk nur sehr ungern heraus-
fordern würde.


DAS ENGLISCH-TÜRKISCHE BÜNDNIS

15. Mai 1939

(Auszug)
Die Folgen des englisch-türkischen Bündnisses, auf das
jetzt zweifellos rasch ein französisch-türkisches Bündnis fol-
gen wird, können kaum überschätzt werden. Eine neue sta-
bilisierende Kraft von überwältigendem Ausmass ist im
Mittelmeer wirksam geworden.
… Die den Westmächten ge-
gebene Möglichkeit, durch die Dardanellen und das Schwar-
ze Meer mit Russland Kontakt zu haben und in Verbindung
zu bleiben, hat sich als lebensnotwendig für die Verteidigung
Osteuropas in einem Krieg gegen deutsche Invasionen er-
wiesen. Der Weizen und der Handel Südrusslands hat nun,
solange die britische und die französische Flotte das Mittei-
meer beherrschen, freien Zugang zu den Weltmärkten, und
umgekehrt kann alles, was an Kriegsgeräten und Roh-
materialien gebraucht wird, zu den russischen Häfen im
Schwarzen Meer geschafft werden.
… Wenn Russland und
die Türkei die Herrschaft über das Schwarze Meer verlören,
könnte jeder Hafen an seinen Küsten die Landungsbasis
für den deutschen ,,Marsch nach dem Osten" werden, von
dem schon so lange die Rede ist. In der Tat, es gab niemals
eine selbstverständlichere Einheit der Interessen als die der
Anrainer des Schwarzen Meeres. Wenn sie nicht zusam-
menhalten, müssen wieder unendliche Leiden ihr Los sein.



Sonntag, 14. August 2016

Neunzehnter Brief

Der andere Abschied vom Mississippi - diesen Titel hatte ich ursprünglich für meinen dritten Kriminalroman vorgesehen, den Rowohlt als "zu marxistisch" abgelehnt hat und der dann im Fischer Verlag unter dem Titel Rote Messe erschienen ist, wo er kürzlich neu aufgelegt wurde.
Anscheinend rundet sich meine literarische Laufbahn, denn auf diesen alten Titel komme ich jetzt zurück, um eine neue Erzählung zu skizzieren. Sie wird eine überraschende Erklärung für die Staatskrisen bieten, die wir seit nun schon vielen Jahren im Süden und Südosten erleben.
Das Material meiner neuen Story beziehe ich aus vier Informationsquellen. Genauer, ich stütze mich auf Äußerungen von zwei Investment-Experten, die sich in der allmorgendlichen press review des BBC London geäußert haben, ferner auf einen Finanz-und Wirtschaftsexperten, den ich in einer Fernsehsendung der deutschen Teleakademie hörte, sowie einen deutschen Experten für die Entwicklungsprobleme von emerging economies. 

Zuerst einer der Londoner Investment-Berater. Er sagte: "There are now dozens of trillions of dollars floating around the globe looking for a home." Zu deutsch: Derzeit fließen Dutzende von Billionen Dollar um den Globus und schauen nach einer Heimat aus; gemeint ist, dass sie nach einer profitablen Anlagemöglichkeit Ausschau halten.
Denn Kapital ist nicht daran interessiert, Maschinen oder Lebensmittel oder Handys zu produzieren, oder was wir sonst benötigen. Kapital will Gewinn produzieren. Das lerne ich aus Statistiken, die der Finanzexperte der Teleakademie vorgestellt hat. Demnach ist es nicht mehr besonders profitabel, in irgendwelche Produkte zu investieren, die wir kaufen können. Die Produktion von Autos, Agrarerzeugnissen oder auch Elektronik wirft seit vielen Jahren immer weniger Gewinn ab und ist daher für Kapitaleigner unattraktiv.
Daher haben die Verwalter großer Kapitalien - um den Kreislauf des Geldes aufrecht zu erhalten - neue Produkte erfunden. Es sind Finanzprodukte, sogenannte Derivate. Indem zum Beispiel alte Schulden zu "Paketen" zusammengefügt und als risikolos bewertet wurden, konnten sie mit hohem Gewinn verkauft und wiederverkauft werden.
Ohne dass ich im Einzelnen ausführe, was der Experte alles an fiktiven oder sogenannten Buchwerten aufgezählt hat, die gehandelt worden sind, fasse ich seine wesentliche Schlussfolgerung zusammen: Es ist irreführend, von einer Fehlentwicklung des Kapitalismus zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um die logische und zwangsläufige Folgerung großer Kapitaleigner aus der Tatsache, dass Investitionen in die Realwirtschaft sich nicht mehr lohnen.
Es ist auch unsinnig, ständig - wie wir es erleben - von notwendigen Investitionen in die Infrastruktur zu reden. Niemand will in den Bau von Brücken, Straßen, elektrischen Leitungen oder die Wasserversorgung investieren, es lohnt sich nicht. Es lohnt sich deshalb nicht, weil derartige Projekte durch Ausschreibung an den billigsten Anbieter vergeben werden, und dieser ist deshalb preiswert, weil er kaum Gewinn macht oder es auf Kosten der Qualität tut. Staatsinvestitionen aber sind undenkbar, wenn die Staaten bereits hoch- und höchstverschuldet sind, wie etwa Japan, USA, Italien, Griechenland undsoweiter undsoweiter.
Andererseits aber war die Regulierung von Finanzgeschäften nicht zu vermeiden, da die um den Globus fließende Geldmenge von der Politik als bedrohlich erkannt wurde.

Ich komme zum zweiten Investmentexperten, den ich in der press review des BBC hörte. Jemand müsse ihm mal erklären, sagte er, weshalb eine lange Kolonne von Kämpfern des Islamischen Staates vom Irak aus durch hunderte Kilometer Wüste in Richtung der syrischen Stadt Palmyra ziehen konnte, ohne von der US Air Force bombardiert zu werden. Es seien hochmoderne Kampfwagen amerikanischer Produktion unterwegs gewesen, die bei der Eroberung von Mossul in die Hände des IS gefallen seien. Raketenwerfer, bazookas, viel allermodernstes Kampfgerät. Es zu zerstören, sei in der platten Wüste bei klarem Himmel leicht möglich gewesen. Warum also sei es nicht geschehen?
Die Frage wurde gestellt, aber nicht beantwortet.
Eine Antwort erfinde ich nun nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Denn manchmal, sagt der große Kriminalschriftsteller Raymond Chandler, ist ein Beweis nichts weiter als eine überwältigende Wahrscheinlichkeit. Also dann: Die Amerikaner haben die Kampfkolonne deshalb geschont, weil die Beseitigung des syrischen Präsidenten Assad durch den IS erwünscht war.

Der Mittlere Osten bis hinunter in den Kongo - also ganz Nordafrika - wäre eine hochinteressante neue Heimat für die um den Globus fließenden Dutzenden von Billionen Dollar. Palmyra wurde geopfert, weil die westlichen Politiker es nach jahrelanger Bombardierung der syrischen Infrastruktur noch immer nicht geschafft hatten, Präsident Assad durch einen genehmeren Machthaber, wie in der Ukraine durch einen Poroschenko oder Jazenjuk, zu ersetzen.
Wem gaben und geben sie die Schuld? Dem "Kriegsherrn Putin" (wie die BILD-Zeitung gestern erst, am 13.08. 2016, leitartikelte. Nur durch dessen zynische Geostrategie, als befehle er einer Großmacht, habe Assad sich halten können. Dabei stehe Putins Macht auf den tönernen Füßen einer maroden Wirtschaft, die nur gesunden könne, wenn Russland wieder demokratisch regiert und freier Kapitalverkehr garantiert werde.

Damit komme ich zu meiner vierten Informationsquelle, einem angesehenen Fachmann, er war Jahrzehnte im Bundesministerium für Entwicklungshilfe tätig. Er weist darauf hin, dass freier Kapitalverkehr nur diejenigen Ökonomien vorwärts gebracht hat, die bereits industrialisiert waren. Sogenannte Entwicklungsländer werden durch freie Kapitalflüsse zerstört. Nicht die Freiheit von Kapital sei erforderlich für die Entwicklung von emerging economies, sondern Rechtssicherheit bei möglichster Bekämpfung von Korruption, damit heimisches Kapital nicht auf ausländische Konten abfließt, sondern kluges Investment in einheimische Produktionen sowohl des Agrar- wie des industriellen Bereichs erfolgen kann. Dies solange, bis Wettbewerbsfähigkeit mit dem Ausland erreicht sei.
Als Erfolgsmodell nennt der Experte China, als Misserfolgsmodelle etliche afrikanische Staaten, deren einheimische Bauern, Handwerksbetriebe und Manufakturen durch Öffnung der Grenzen zerstört wurden.     

Die Folgerung liegt auf der Hand. Für die um den Globus fließenden heimatlosen Dollarbillionen muss Nordafrika als Investstitionsraum geöffnet werden. Gelingt es nicht, oder nicht schnell genug, muss Russland mit einer neuen Regierung versehen werden; nur dann können auch die chaotischen Verhältnisse in der Ukraine endlich bereinigt werden.

Eine neue Regierung oder "administration" wird sich zwischen November, wenn der US-Präsident gewählt wird, und dem Januar nächsten Jahres, wenn er sein Amt antritt, mit dem Problem befassen. Noch viele Millionen Menschen mehr als bisher schon könnten heimatlos werden, wenn für Dutzende von Billionen Dollar neue Heimat geschaffen wird.  

Donnerstag, 11. August 2016

Achtzehnter Brief

"Die erste Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht darin, Meinungen zu haben, sondern darin, die Wahrheit zu sagen, sich nicht zum Komplizen von Lügen oder Falschmeldungen zu machen."
Die bedeutende US-amerikanische Kollegin Susan Sontag sprach mir aus dem Herzen, als sie den Jerusalem-Preis entgegennahm, und es hat Mut erfordert - weshalb, ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Mittwoch, 11. Juli 2001, im Feuilleton nachzulesen. "Gegen die Stimmen der Vereinfachung ist die Literatur das Haus der Nuancen und Widersprüche." Und weiter: "Die Aufgabe des Schriftstellers besteht darin, uns die Welt ungefähr so vor Augen zu führen, wie sie ist, nämlich erfüllt von vielen verschiedenen Ansprüchen, verschiedenen Rollen und Erfahrungen ... Was auch immer geschieht, stets geschieht gleichzeitig auch etwas anderes. Dieses 'andere' treibt mich um."

Wunderbar ermutigende Sätze! Zumal ich die Belehrung erhalte, so etwas wie Wahrheit gebe es gar nicht. Und damit komme ich auf die International New York Times vom Montag, 8. August 2016. "Putin gains leverage as army wins Syria battles", lautet einer der Aufmacher auf der Titelseite. "Russia gets upper hand in proxy war against U.S."

Was folgt, ist eine Darstellung des Kriegsverlaufs in Syrien.
Noch letzten Oktober sagte Präsident Obama, der Versuch Russlands und Irans, Präsident Assad zu unterstützen und die Bevölkerung zu befrieden, werde diese beiden Mächte in einen Sumpf ziehen, und sie würden lange darin steckenbleiben, und es werde nicht funktionieren.
Im Wesentlichen wird jetzt in der INYT ausgeführt: Seit Jahren hat die CIA in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten mehrerer arabischer Nationen Rebellen in Militärbasen Jordaniens und Quatars bewaffnet und trainiert. Die Kosten hat man von Saudi-Arabien ersetzt bekommen. Die mit modernsten US-Waffen ausgerüsteten Rebellen haben bedeutende Geländegewinne vor allem im Norden Syriens erzielt. Ein Problem der US-Regierung: die Rebellen kämpften an der Seite der Nusra-Front, die bis vor kurzem mit al-Quaida verbündet war. Keine der CIA-gestützten Gruppen ist westlichen Werten verpflichtet. Nur ein islamischer Staat ist für sie denkbar, ein laizistischer nicht.
Westlich orientierte Bevölkerungsgruppen müssen fliehen oder werden umgebracht. Beispiele Palmyra, Aleppo und weniger bekannt gewordene. Doch seit der Intervention Russlands im September 2015 sind die Rebellen zurückgedrängt worden. Ihre Führer und militärischen Experten befürchten, dass ihre Versorgungslinien zur Türkei unterbrochen sind.
Auch auf die Vorgeschichte wird eingegangen.

Der lange Leitartikel beweist, wie unvollständig wir von unseren Medien über diesen Krieg informiert, also eigentlich desinformiert werden. Ich kann nur empfehlen, den Artikel selbst zu lesen. Kann nicht viel kosten.  Außer etwas Mühe.






Donnerstag, 4. August 2016

Siebzehnter Brief

Eine moralische oder kritische Position nachträglich zu korrigieren, ja als verfehlt einzugestehen, überfordert die allermeisten Intellektuellen. Sie finden diese und jene und noch eine Entschuldigung für sich. Doch es gibt Ausnahmen. So eine habe ich heute früh in einem Fernsehinterview bewundernd zur Kenntnis nehmen dürfen. Die Sendung war ein Rückblick auf Huntingtons vor zwanzig Jahren erschienenes Buch "Clash of Civilizations". Ein Professor für ostasiatische Studien, Abt. Vergleichende Literatur, an der New York University, gestand offen ein, er habe damals zu den vehementesten Kritikern Huntingtons gehört und müsse zugeben: Huntington "was right, I was wrong". H. hatte recht, ich unrecht.
Kaum jemand von uns kann das. Wir verteidigen unseren geistigen Besitz so verbissen und wütend wie nur irgendein Kleinbürger seinen Geldbesitz. Ausnahmen sind rar und nur den geistig aktivsten Menschen überhaupt möglich. Sie ernten gewöhnlich die hämische bis beleidigende Reaktion einer geistig versifften Umwelt. "Mann über Bord" titelte ein Blatt, nachdem Thomas Mann aus seinen politischen Illusionen während des Ersten Weltkrieges die Schlussfolgerung gezogen hatte, die Zukunft der deutschen Jugend liege bei der patriotischen Versöhnlichkeit der sozialen Demokratie und nicht beim fanatischen Nationalismus der Fememörder.
Man unterstellte schnöden Opportunismus. Was gibt dir denn der politische (geistige, ideologische, religiöse usw.) Gegner dafür? Muss sich wohl lohnen, wie?
Doch es gibt Menschen, deren Lebensleistung für etwas ganz anderes steht als für Käuflichkeit. Wer das nicht wahrzunehmen vermag, dem fehlt wohl etwas an der inneren Ausstattung, die wir bei Menschen von Anstand vorausssetzen.

Nun konkret zu einigen Thesen Huntingtons, die Prof. Zhang Xudong heute anders sieht als damals.

Wenn große Staaten lange und ungeschützte Grenzen miteinander haben, wie Rußland und die Ukraine, so sei es wohl möglich, dass sie in Harmonie miteinander leben lernten - doch es wäre sehr ungewöhnlich. Schrieb Huntington.
Fast prophetisch, nicht?

In China und den westlichen Ländern habe man sich versprochen, dass durch Fortschritt die althergebrachten gesellschaftlichen Gegensätze allmählich zum Ausgleich führen würden. Nicht so im Mittleren Osten. Der Islam sei von seiner kulturellen Superiorität überzeugt und traumatisiert von seiner Inferiorität in der Welt.
 Prof. Xudong findet es furchteinflößend, dass viele Mosleme aus Nordafrika ihrer als überlegen empfundenen Kultur auch dann treu bleiben, wenn es den Verzicht auf materiellen Fortschritt mit sich bringt. Huntingtons Buch  habe die USA dringend aufgefordert, mit den islamischen Staaten zu leben und nicht gegen sie, die moslemische Identität zu respektieren und nicht durch eine westliche ersetzen zu wollen - gar gewaltsam.
Nun erlebt man, dass junge Mosleme nicht nur elendes Leben, auch hoffnungsvolle Karrieren opfern, um ihre Identität und die ihrer Glaubensbrüder zu behaupten.
Huntington habe die wirklichen Probleme benannt und nicht schöngeredet - als sie noch lösbar gewesen wären. Und jetzt, und inzwischen - ?

Dass der Islam den Indonesiern friedliches Zusammenleben ermöglicht, habe womöglich damit zu tun, dass der Westen in Indonesien lange nicht mehr militärisch interveniert hat. Meint der Professor.   

Siebzehnter Brief

Eine moralische oder kritische Position nachträglich zu korrigieren, ja als verfehlt einzugestehen, überfordert die allermeisten Intellektuellen. Sie finden diese und jene und noch eine Entschuldigung für sich. Doch es gibt Ausnahmen. So eine habe ich heute früh in einem Fernsehinterview bewundernd zur Kenntnis nehmen dürfen. Die Sendung war ein Rückblick auf Huntingtons vor zwanzig Jahren erschienenes Buch "Clash of Civilizations". Ein Professor für ostasiatische Studien, Abt. Vergleichende Literatur, an der New York University, gestand offen ein, er habe damals zu den vehementesten Kritikern Huntingtons gehört und müsse zugeben: Huntington "was right, I was wrong". H. hatte recht, ich unrecht.
Kaum jemand von uns kann das. Wir verteidigen unseren geistigen Besitz so verbissen und wütend wie nur irgendein Kleinbürger seinen Geldbesitz. Ausnahmen sind rar und nur den geistig aktivsten Menschen überhaupt möglich. Sie ernten gewöhnlich die hämische bis beleidigende Reaktion einer geistig versifften Umwelt. "Mann über Bord" titelte ein Blatt, nachdem Thomas Mann aus seinen politischen Illusionen während des Ersten Weltkrieges die Schlussfolgerung gezogen hatte, die Zukunft der deutschen Jugend liege bei der patriotischen Versöhnlichkeit der sozialen Demokratie und nicht beim fanatischen Nationalismus der Fememörder.
Man unterstellte schnöden Opportunismus. Was gibt dir denn der politische (geistige, ideologische, religiöse usw.) Gegner dafür? Muss sich wohl lohnen, wie?
Doch es gibt Menschen, deren Lebensleistung für etwas ganz anderes steht als für Käuflichkeit. Wer das nicht wahrzunehmen vermag, dem fehlt wohl etwas an der inneren Ausstattung, die wir bei Menschen von Anstand vorausssetzen.

Nun konkret zu einigen Thesen Huntingtons, die Prof. Zhang Xudong heute anders sieht als damals.

Wenn große Staaten lange und ungeschützte Grenzen miteinander haben, wie Rußland und die Ukraine, so sei es wohl möglich, dass sie in Harmonie miteinander leben lernten - doch es wäre sehr ungewöhnlich. Schrieb Huntington.
Fast prophetisch, nicht?

In China und den westlichen Ländern habe man sich versprochen, dass durch Fortschritt die althergebrachten gesellschaftlichen Gegensätze allmählich zum Ausgleich führen würden. Nicht so im Mittleren Osten. Der Islam sei von seiner kulturellen Superiorität überzeugt und traumatisiert von seiner Inferiorität in der Welt.
 Prof. Xudong findet es furchteinflößend, dass viele Mosleme aus Nordafrika ihrer als überlegen empfundenen Kultur auch dann treu bleiben, wenn es den Verzicht auf materiellen Fortschritt mit sich bringt. Huntingtons Buch  habe die USA dringend aufgefordert, mit den islamischen Staaten zu leben und nicht gegen sie, die moslemische Identität zu respektieren und nicht durch eine westliche ersetzen zu wollen - gar gewaltsam.
Nun erlebt man, dass junge Mosleme nicht nur elendes Leben, auch hoffnungsvolle Karrieren opfern, um ihre Identität und die ihrer Glaubensbrüder zu behaupten.
Huntington habe die wirklichen Probleme benannt und nicht schöngeredet - als sie noch lösbar gewesen wären. Und jetzt, und inzwischen - ?

Dass der Islam den Indonesiern friedliches Zusammenleben ermöglicht, habe womöglich damit zu tun, dass der Westen in Indonesien lange nicht mehr militärisch interveniert hat. Meint der Professor.   

Samstag, 30. Juli 2016

Sechzehnter Brief

Eigenartige Meldungen aus USA heute Samstag, 30. Juli 2016, in "Das politische Magazin" meiner Lokalzeitung. Der US-Korrespondent der nrz meldet, Hillary Clinton habe in ihrer Nominierungsrede zwei Leitgedanken betont. Der erste: Trump ... Der zweite: Trump ... Jeweils habe man dann von Clinton gehört, was Trump alles falsch machen würde, wäre er Präsident. Sie wolle, schreibt der Korrespondent im Kommentar zu seinem Bericht, da weitermachen, wo Obama nach acht Jahren aufhöre. "Aber die destruktive Stimmung im Land war noch nie so stark."
Was die destruktive Stimmung u.a. mit erzeugt haben könnte, steht in der Meldung direkt neben diesem Kommentar: "Afghanische Regierung verliert Boden gegen Taliban". Demnach kontrolliert die Regierung in Kabul nur noch zwei Drittel der Bezirke ihres Landes. 2015 seien in Gefechten mit den Taliban 7000 Regierungssoldaten und Polizisten gefallen, doppelt soviele verletzt worden. 2016 seien die Zahlen weiter gestiegen.
Aus anderer Quelle, nämlich von der linksorientierten US-Gruppe The Hawks, habe ich im Fernsehen gehört, dass die USA in Afghanistan bisher eine Billion Dollar ausgegeben haben, um die Kabuler Regierung zu stabilisieren, das sind 1000 Milliarden (Dollar!!), 33 000 pro Kopf jedes Afghanen.
Dabei ist zu bedenken, dass die von den Taliban kontrollierten Bezirke die wichtigsten Anbaugebiete von "poppies" (Mohn) enthalten. Die Lieferungen von Opium und Morphin gehen vor allem nach USA. Die Vereinigten Staaten finanzieren demnach erstens den Krieg Kabuls gegen die Taliban wie zweitens auch den Krieg der Taliban gegen Kabul - und drittens zusätzlich die Drogenschwemme nach USA, die viertens aber ebenfalls von Washington eingedämmt werden soll und als war against drugs, Krieg gegen die Drogen, bezeichnet wird. Denn diese tragen zur moralischen Verwahrlosung in den Ghettos amerikanischer Großstädte bei, die wiederum die Gewaltbereitschaft von street gangs fördert - was fünftens die teure Aufrüstung der Polizei mit Kriegswaffen erforderlich macht.
Diese Politik kann Hillary Clinton nicht fortsetzen wollen. Irgendetwas verstehe ich hoffentlich falsch.

Montag, 18. Juli 2016

Fünfzehnter Brief

Hat Kuba sich vier Jahrzehnte lang von der Welt abgeschottet? In der Süddeutschen Zeitung habe ich das letzte Woche gelesen. 
Es hat mich an einen Film erinnert, den Errol Flynn gedreht hat: 1959 - sein Todesjahr - drehte er noch eine Dokumentation über die kubanische Revolution. Er hat die Revolutionäre in ihren ständig wechselnden Gebirgs-Camps besucht, als  sie noch von Batistas Armee verfolgt wurden, und überliefert uns Aufnahmen von Fidel Castro und Che Guevara aus den letzten Wochen vor ihrem siegreichen Einzug in Havana, und dann den triumphalen Empfang dort. Errol feiert sie als tapfere Freiheitskämpfer, die ein Beispiel seien für alle unterdrückten und ausgebeuteten Völker Lateinamerikas.
Es ist die letzte Botschaft, die Errol Flynn an seine Fans gerichtet hat. Ich bin wohl sehr anhänglich und auch ein wenig sentimental, dass ich so sehr berührt davon bin, und mir die Doku gestern noch einmal angesehen habe. Errol sieht gesund und zuversichtlich aus, nicht wie jemand, der vor Jahresende sterben wird. 
Es gibt auch zwei wunderbare Spielfilme, die von der kubanischen Revolution handeln. Explosion in Kuba mit Sean Connery und Martin Balsam, glänzend inszeniert von Richard Lester, dem es vielleicht nicht jeder zugetraut hätte. Und Havana mit Robert Redford und der fast herzbrechend schönen jungen Lena Olin, Regisseur: Sidney Pollak.  
Aus beiden Filmen sind mir wunderbare Dialoge in Erinnerung. 
Connery als Anti-Terror-Söldner zu Balsam, einem korrupten Batista-General: Gegen Castro gewinnt man nur, wenn man im Recht ist. Balsam sarkastisch: Und ist er? Connery: Entscheidend ist, ob die Kubaner meinen, dass er im Recht ist.
Redford als unpolitischer Berufsspieler zu Lena Olin: Du willst die Welt ändern? Ändere meine! Zum Schluss am Kai zur Fähre nach Amerika kommt sie und fragt: Hast du auf mich gewartet? Redford: Mein Leben lang.
In den Film sind wunderbare Songs aus der großen Zeit Frank Sinatras eingeblendet: I think of you und London by night. Unvergesslich.
Der Schluss endet mit Redfords Überlegung, dass alles möglich ist. Er steht an der Küste von Key West und hält Ausschau nach der Revolutionärin, deren Kommen er weder erwarten noch erhoffen kann. Aber wer weiß - ? Und dazu fällt nun mir ein weiterer Song Sinatras ein, der im Film nicht vorkommt: Maybe you'll be there. Text im Internet, der Song wohl gebührenpflichtig, ist es aber auch wert. 

Irgendwo habe ich noch eine Doku über Meyer-Lansky, der zusammen mit Batista einen Puff mit Glücksspielbetrieb aus Havana gemacht hatte. Diese DKV habe ich gestern nicht gleich gefunden, dafür eine andere, die das kleine Haus zeigt, in dem Che Guevara gefangen genommen wurde. Es ist heute eine Gedenkstätte, viele Besucher aus aller Herren Länder kommen. 

Warum mag Kuba sich wohl abgeschottet haben? Aus Verbohrtheit? Trotz? Oder haben Wirtschaftssanktionen eine Rolle gespielt? Gab es nicht auch Attentate auf Fidel Castro, zu denen die CIA sich bekannt hat - nicht 600, wie jemand im Fernsehen höhnte, aber doch mehr als sechs...?
Keine Ahnung, ob es im Artikel der Süddeutschen Zeitung erwähnt ist, ich habe ihn nicht lesen wollen, nachdem ich die Schlagzeile gesehen hatte. 

Ob auch dieser Beitrag wieder geeignet ist, meinen vormals guten Ruf zu zerstören?  

Samstag, 16. Juli 2016

Vierzehnter Brief

Freundlicher Umgang

Ich zerstöre auf diesem Blog meinen zuvor guten Ruf, meint ein Freund, dem ich viel verdanke – nachdem er mir per E-Mail mitgeteilt hat, ich sei entweder so dumm, mich von Putins Propaganda irreführen zu lassen, oder ein Mietmaul, also einer, der sich von Putin bezahlen lässt, irreführende Propaganda über weltpolitische Vorgänge zu verbreiten.
Wie verletzend solche Vorhalte sind, und wie irrig dazu, bemerkt mein Freund nicht.

Irrig in vielerlei Hinsicht. Zunächst einmal äußere ich mich keineswegs zur Weltpolitik – sondern zum öffentlichen Diskurs darüber. Er ist vergiftet durch Verdächtigungen, wie mein Freund sie gegen mich richtet.

Aufgefallen ist es mir zuerst, als eine Fernsehkorrespondentin bei Verleihung eines Preises erklärt hat, die Kritiker ihrer Berichterstattung seien entweder irrgeführt oder bestochen. Mit anderen Worten, Kritik an ihrer Berichterstattung entbehre seriöser Grundlage. Dafür den Joachim-Friedrich-Preis? Ich mochte es kaum glauben.

Seither gehört es zur alltäglichen Berichterstattung unserer westlichen Medien (soweit ich sie kenne, das sind BBC, CNN und die wichtigsten deutschen Zeitungen, gelegentlich die International New York Times) – es ist Routine, sage ich, Kritik an der Politik der Nato als Putins Propaganda zu bezeichnen. Entweder man ist dumm, weil man drauf hereinfällt, oder hat sich kaufen lassen.

Als mein Freund, dem ich über Jahrzehnte und bis in die jüngste Zeit viel zu danken hatte, erstmals solche Verdächtigungen äußerte, richteten sie sich nicht nur gegen mich. Ich hatte mich auf Aussagen der sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Helmut Schmidt bezogen, auf Willy Brandts Berater Egon Bahr und auf Peter Scholl-Latour, den Helmut Schmidt als einen von einer Handvoll Vertrauten bezeichnet hat.

Mein Freund nun also bezeichnete Gerhard Schröder als Gazpromhure, Helmut Schmidt als Oberzyniker, und Scholl-Latour als jemand, der wohl noch aus dem Grabe die Welt erklären werde – als ewigen Besserwisser, verstand ich. Andere, auf die ich mich bezogen hatte und die ich für seriös hielt und halte, hat er in ähnlichem Tonfall niedergemacht.

Nun – in unseren Kreisen redet man so nicht. Mit mir schon gar nicht. Ich dachte zunächst, mein Freund müsse an einer Art Tourette-Syndrom erkrankt sein, und bat ihn, seinen Ton zu überprüfen. Er überschreitet nun mit der Verdächtigung, ich sei ein Mietmaul Putins, erneut die Anstandsgrenze.

Es ist aber – wie gesagt – nicht nur ein privates, es ist ein gesellschaftliches Problem. Unser öffentlicher Diskurs ist vergiftet von Verdächtigungen und Denunziationen. Intelligentes Abwägen alternativer Standpunkte, was Allen Dulles als „educated guess“ bezeichnet hat und was die eigentliche Aufgabe informativer Berichterstattung wäre, ist außer Kurs geraten – zu meiner größten Bestürzung nicht nur auf der Rechten (da hatte ich es erwartet), sondern im linken Lager, dem ich mich zurechne und dem auch mein Freund sich, wie ich annehmen darf, zugehörig fühlt.

Ich fühle mich gemobt. Wie wehrte man sich gegen Mobbing – durch einen Freund?!
Wäre es ein Gegner und ich eine öffentlichere Person, könnte ich auf Unterlassung klagen. Aber einem Freund gegenüber? Da ich keinen Wert darauf lege, das letzte Wort zu behalten, werde ich bezüglich meiner publizistischen und charakterlich-moralischen Integrität keine Mitteilung an ihn richten.

Mir ist keine andere Antwort eingefallen als ein Zitat.

An Friedrich Gottlieb Klopstock

Weimar d. 21. Mai 1776.
Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie helfen nichts, und machen uns immer ein paar böse Stunden.
Sie fühlen selbst daß ich nichts darauf zu antworten habe. Entweder müsste ich als Schul Knabe[63] ein pater peccavi anstimmen, oder mich sophistisch entschuldigen, oder als ein ehrlicher Kerl vertheidigen, und dann käm vielleicht in der Wahrheit ein Gemisch von allen Dreien heraus, und wozu?
Also kein Wort mehr zwischen uns über diese Sache! Glauben Sie, daß mir kein Augenblick meiner Existenz überbliebe, wenn ich auf all' solche Briefe, auf all' solche Anmachungen antworten sollte. – Dem Herzog thats einen Augen Blick weh, daß es von Klopstock wäre. Er liebt und ehrt Sie. Von mir wissen und fühlen Sie eben das. – Graf Stolberg soll immer kommen. Wir sind nicht schlimmer, und wills Gott, besser, als er uns selbst gesehen hat.
G.

Freitag, 15. Juli 2016

Dreizehnter Brief


Prägungen

Jesus war Populist. Was er der Bevölkerung predigte, wurde von den herrschenden geistlichen und weltlichen Eliten als gefährlich empfunden. Sein Ende ist bekannt und nicht ermutigend – und doch hat es mich als Kind nachhaltig geprägt, allerdings indirekt, denn ich war nicht fromm erzogen, sondern liberal.
Die Botschaft, dass ich mutig für meine Wahrheit einstehen soll, auch wenn es gefährlich ist, hat mich aus Amerika erreicht, dem Amerika Roosevelts wohlgemerkt. Errol Flynn als Dr. med. Peter Blood sagt dem Regenten ins Gesicht, dass sein König ein Ungeheuer sein muss, und dass du, Regent, bald sterben wirst, denn du leidest an einer unheilbaren Krankheit. Der hellsichtige Arzt wird als Sklave verkauft.
Tröstlich für mich mitzitternden Knaben, dass er an keinem Kreuz endet, sondern als Gouverneur der Insel, auf die er verkauft wurde.
Wie aber, wenn man nicht Gouverneur wird, sondern Sklave bleibt? Das ist mir passiert und nicht ganz unerwartet gekommen, denn mittlerweile hatte mich die Verpflichtung zu Anstand und Wahrhaftigkeit über Raymond Chandler erreicht. Sein Detektiv Philip Marlowe macht sich keine Illusionen über die Korruption, die seine Welt vergiftet, lässt sich jedoch nicht anstecken. „Down these mean streets a man must go who is not himself mean“, habe ich bei Chandler gelesen. Und auch, dass man nicht jeden Kampf gewinnen kann. Zweimal wird Marlowe von dem Kriminalbeamten, dem er zu widersprechen wagt, niedergeschlagen – ein drittes Mal schweigt er, zwei Mal reicht. Marlowe kehrt zurück in seine Wohnung und blickt hinaus auf das n ächtliche Los Angeles. Er beobachtet, wie die Stadt ruhig wird, „und allmähölich wurde auch ich wieder ruhig“.
Tröstlich für mich erwachsenen Leser, dass Marlowe den Schläger als Mörder überführt und daher besiegt.
Wie aber, wenn ich einen Mörder überführe und dennoch nicht besiege? Das habe ich erlebt, als ich in einer Redaktionskonferenz den Verlagsleiter über den Filmproduzenten Arthur Brauner sagen hörte: „Den haben sie auch zu vergasen vergessen“. Ich meldete es den Eigentümern des Verlages, zwei Rechtsanwälten, und forderte Konsequenzen. Die Konsequenz war, dass ich entlassen wurde. Da ich mit einer Klage drohte, wurde die Entlassung zurückgenommen, ich hätte meinen Posten behalten können – doch ich mochte unter diesem Verlagsleiter und solchen Verlagseigentümern nicht mehr arbeiten, ließ mir drei Monatsgehälter auszahlen und nutzte die Summe, um die Arbeit an meinem ersten Krimiknaltroman zu finanzieren, den dann 1968 – bedeutsames Datum – als Rowohlt Thriller erschienen ist: „Und dann hab ich geschossen.“
Dennoch ein Sieg? Ich will nichts schönreden. Die erwünschten finanziellen Erfolge als freier Schriftsteller stellten sich zunächst nicht ein. Ich musste begreifen, dass ich als Wiedergänger von Jesus-Peter Blood-Philip Marlowe ängstigende Unsicherheit in Kauf nahm. Es schien günstiger,  wenn ich mit den Wölfen heulte, mit dem Rudel lief, mich bestehenden Machtverhältnisse einfügte.
Das ist nicht gelungen, mir ist es ergangen wie Saulus von Tarsus. Bekanntlich hat er im Auftrag der zur Zeit Jesu herrschenden Eliten dessen Anhänger grausam verfolgt und ist dafür reich belohnt worden. Bis er vor Damaskus zusammenbrach.
So ist es mir ergangen. Ich war gemütsmäßig nicht dafür ausgestattet, für Geld zu lügen. „Wir lügen alle“, gestand die große Journalistin Margret Boveri im Interview mit Uwe Johnson. Und hat gerade damit eine bedeutsame Erkenntnis ausgesprochen. Man muss das aber auch aushalten. Genauer: Man muss es dennoch mit sich selbst aushalten.
Das war und ist mir verwehrt.
Ich muss aufrichtig bleiben, ich kann nicht anders. Versuche ich es mit Halbwahrheiten, Verdrehungen, Verschweigen, gar mit Lügen, dann werde ich krank, ganz buchstäblich – „wenn die Zunge versagt, redet der Körper statt ihrer“ habe ich irgendwo gelesen. Ein heiliger Paulus bin ich darüber nicht geworden.
Aber dass ich zu Marx zurückfinde, den ich mit dreißig Jahren entdeckt habe, sollte ich eigentlich nicht veröffentlichen. Da uns eingeredet wird, seine Erkenntnisse seien veraltet, und das auch stimmt, wird mich niemand begreifen. Verschwiegen und verkannt wird, dass Marx eine Methode entwickelt hat, um die Verflechtung ökonomischer und politischer Verhältnisse zu analysieren, und dass diese Methode – auf unsere allerdings veränderten Verhältnisse angesetzt – heute noch wertvolle Resultate liefern könnte.  
„Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müsste ich lügen“, sagte der Bürgermeister der Allgäuer Gemeinde, in der ich fast zwanzig Jahre gelebt habe und in deren Rat ich saß. Ein kluger und ein ehrlicher Mann.
Will ich Jesus-Blood-Marlowe sein, ziehe ich Hass und Wut weniger der Mächtigen (die ignorieren mich), als ihrer Gefolgsleute auf mich (die sind wie Sand am Meer so zahlreich).
Will ich Saulus sein, breche ich zusammen und werde dennoch kein Heiliger, nur ein Nerd.

Um mit einem Scherz zu schließen. „ Man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen“, pflegte meine Tante Lilo zu sagen, eine der vielen hilfreichen und guten Frauen in meinem Leben.