Weizsäckers Selbstdarstellung
Quelle: Carl Friedrich von Weizsäcker:
Der Garten des Menschlichen
„Die Fähigkeit zum widerstrebenden Konformismus gehört in allen Gesellschaften zu den Mitteln des Überlebens.“
„Mein Unglaube an die Legitimität des bürgerlichen Systems – in meiner Generation damals weit verbreitet – und eine unklare chiliastische (=endzeitliche) Erwartung machten mich Zwanzigjährigen empfänglich für den seelischen Vorgang, den ein tiefblickender Kritiker die Pseudo-Ausgießung des Heiligen Geistes von 1933 genannt hat.“
Ich wurde aufmerksam. Auch ich war als Zwanzigjähriger von der Ausgießung eines Geistes, den ich für irgendwie heilig hielt, empfänglich gewesen. Es war für mich der Geist der Gründungsväter der USA, der Geist eines Jefferson, Franklin, Washington.
Beeindruckt hatte mich, wie damals Weizsäcker, „daß zahllose Menschen, die verzagt und verzweifelt gewesen waren, einen gemeinsamen Lebensinhalt empfanden; das also, was die Anhänger der Bewegung ihren Idealismus nannten.“ In meinem Fall war es die Bewegung der 68er-Jahre.
Was lag dahinter?, fragt er. „Als ich als Kind zum ersten Bewusstsein erwachte, war Krieg.“ Aus der Welt der Erwachsenen empfing er die Botschaft:
„Die Welt ist voller Morden.“ Viele von uns haben es ähnlich empfunden, als Präsident Lyndon B. Johnson ein fernes, kleines Bauernvolk mit der Übermacht seines industriellen
Potentials angriff.
Später habe die Bergpredigt seinen Glauben an die Legitimität der bürgerlichen Gesellschaft zerstört, schreibt Weizsäcker, und er habe ihn nie ganz wiederherstellen können.
Bei mir war es nicht die Bergpredigt, die meinen Glauben an die Legitimität der
bürgerlichen Gesellschaft zerstört hat. Es war die Erfahrung, dass ich von allen Medien, denen zu vertrauen man mich gelehrt hatte, belogen wurde.
„Ich gehöre zu denjenigen Deutschen, die das Faktum des Nationalsozialismus nicht bewältigt, sondern überlebt haben.“ So Weizsäcker. Er überlebte, weil er – ich verweise auf den Beginn meines Beitrags – die Fähigkeit zum widerstrebenden Konformismus nutzte.
Auch mir bleibt kein andere Möglichkeit. Noch einmal für unsere rechtsstaatliche Demokratie aktiv einzutreten, bin ich zu alt. Dass unsere Eliten Geld stehlen, um gegen die Bestohlenen Krieg zu führen, ist entsetzlich, schmachvoll, erniedrigend. Doch ich kann es nicht ändern, so wenig es Weizsäcker damals möglich war. Er schreibt: „Der Widerstand, moralisch so verehrungswürdig, beruhte inhaltlich weitgehend auf dem Glauben an die ungebrochene Gültigkeit politischer, auch religiöser und kultureller Denksysteme, deren Brüchigkeit durch Hitlers Erfolg wie durch einen Blitz erleuchtet worden war.“
Carl Hanser Verlag, 1977
Auch für mich ist der Glauben an die ungebrochene Gültigkeit von Anstandsnormen zerstört worden.
Michael Molsner
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