Sonntag, 25. August 2024

Schwindende Empathie

In dem zweieinhalbtausend Jahre alten Stück "Die Troerinnen" stellt Euripides das Schicksal von Eroberten vor. Troja ist gefallen. Hekuba, die Königin Trojas, klagt ihr Leid. "Entehrt, geschändet, entheiligt, entweiht!/Schmerz über Schmerz, Weh über Weh!/Troja, Troja - / Oh - / Wie elend sind, die dich verlassen,/ Elend die Lebenden,/ Elend die Toten all!" Sie selbst, Königin einst, wird als Sklavin Dienstbotendienste für nacktes Überleben leisten müssen und Schläge bekommen, wenn sie nicht eifrig genug dient. Sie hat die Ermordung von Töchtern und Söhnen erleben müssen. Freilich: "O Mensch, du Tor, du stürzt in eitler Kraft/ Altar und Mal der Toten, frevelhaft,/ Indes dein eigen Grab am Wege klafft". Alle Zitate aus der Nachdichtung Fanz Werfels, Aufbau Verlag 1973. Jedoch: Was ist uns Hekuba? In Shakespeares Stück Titus Andronicus hören wir von ihr: "Knabe. ... Denn oftmals hört ich vom Großvater schon, Den Geist verwirr' ein Übermaß des Grams; Und las, wie die trojansche Hekuba Toll ward durch Kummer: das erschreckte mich, ..." Mich - Molsner - erschreckt es auch, doch es überrascht mich nicht. Bei Euripides ist es der Gott des Meeres, Poseidon, der die zitierte Warnung ausspricht. In der Neuzeit haben Hannah Arendt, Stephane Hessel und widerstrebend sogar Jean Amery davor gewarnt, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Amery, der wohl wusste, dass es für Juden keinen sicheren Hafen mehr gäbe, sollte Israel das Schicksal Trojas erleiden. Wir stehen nun an der Seite und schauen zu, während uns die Empathie ausgeht. Entschuldigt bitte stehen gebliebene Tippfehler.

Samstag, 17. August 2024

Treue Herzen

The Left Chapter Zhou Enlai in Paris -- Photos of Zhou Enlai Between 1920-1924 he studied in France and Germany under a work-study program and spread Marxism among Chinese workers and students living in Europe. Eine sehr interessante Zeitspanne. Frankreich als Siegermacht verlangte von uns, den Verlierern, Entschädigung für die von uns angerichteten furchtbaren Verwüstungen im Elsaß. Das "rote München" (der populäre Eisner) wollte Frankreich überreden, auf seine Forderung wenigstens teilweise zu verzichten. Die SPD-Regierung in Berlin (Ebert) hielt das für undurchführbar, der bayerische Ministerpräsident - wie hieß er nochmal, Vorname Johannes - floh nach Bamberg, lief sozusagen um sein Leben. Berlin meinte, so gehe es nicht, und rief die Armee zu Hilfe. Unter Gustav Noskes Aufsicht griff die Armee so ein, wie es von Soldaten, die keine Polizeiausbildung haben, zu erwarten war. Da sind fürchterliche Dinge geschehen. Jetzt wird behauptet, die SPD hätte die Revolution verraten - was impliziert, eine sozialistische Revolution sei möglich gewesen. Kenner der Verhältnisse wissen, dass die Siegerstaaten gerade einen gemeinsamen Krieg gegen das bolschwistische Russland (Lenin) führten. Es ging um viel Geld, nämlich um die Rückzahlung der Schulden, die der Zar versprochen hatte und Lenin verweigerte. Ein bolschewistisches Deutschland (Mühsam, Landauer, "sich fügen heißt lügen"), hätten sie niemals geduldet. Die Vorstellung ist von sympathischer Realitätsferne, wird aber treuherzig wiederholt.

Mittwoch, 14. August 2024

Zufall oder nicht?

Gibt es Zufälle? Manchmal zweifle ich daran. Gelegentlich einer zufälligen Entstaubung von Büchern stoße ich auf ein Vorwort, das Sartre zur deutschen Ausgabe seines Stücks „Die Fliegen“ geschrieben hat. Die Franzosen hätten nach der Schmach von Vichy, als sie sich 1942 der Besetzung durch die Wehrmacht unterwarfen, zur Mutlosigkeit geneigt. Er aber habe sie 1942 daran erinnert, dass sie noch immer die Wahl hatten, eine Zukunft in Freiheit zu wählen – wie die Deutschen, fast 20 Jahre danach. Schmachvolle Vergangenheit zu verleugnen, das komme niemals in Frage, doch sei Mutlosigkeit auch für die Deutschen die falsche Antwort darauf. Man darf sich, schreibt Sartre anderswo, nicht in die eigene Vergangenheit einschließen wie in eine Hochsicherheitszelle. Statt uns zum Gefangenen unserer Niederlagen zu machen, können wir in die Zukunft eintreten. Die Tür der Zelle ist gar nicht verschlossen, sie steht offen. Als ich meiner Frau von der scheinbar zufälligen Entdeckung berichtete, gab sie mir bedeutenden Bescheid. Wir Deutschen kehren Tag für Tag und immer wieder in die offen stehende Zelle unserer Vergangenheit zurück. Kein Tag, an dem wir dem Dritten Reich der Nazi nicht auf unseren Bildschirmen oder im Radio begegnen und alle seine Helfer kennenlernen. Wir verweigern unsere Zukunft um unserer Vergangenheit willen, die zu leugnen niemand wünscht. Es gibt eine Zukunft auch für uns Deutsche, trotz der Untaten unserer Vergangenheit, und auch für die Franzosen wieder, trotz „Vichy“.