Mittwoch, 5. Mai 2021

Dekonstruktion eines Kriegsspiels

„Ein Manöver wie lange nicht mehr“ meldet die FAZ heute, 5. Mai 2021, auf Seite 6 im Heft „Politik“. Der Oberbefehlshaber der amerikanischen und der NATO-Truppen in Europa, General Tod Walters, übt mit 28000 Soldaten aus 26 Staaten „das gewaltsame Eindringen aller Waffengattungen in von feindlichen Kräften beherrschtes Gebiet“. Er heißt tatsächlich „Tod“, Hi Toddy!, rufen ihn seine Freunde, nehme ich an - und spricht mit erfreulicher Offenheit von „joint forcible entry“. Die amerikanischen Streitkräfte und ihre Verbündeten haben die Großübung Defender Europe 21 am gestrigen Dienstag begonnen und werden sie bis Mitte Juni fortsetzen. Laut FAZ werden die Truppen „die Verteidigung der NATO an ihrer östlichen Flanke üben“. Nun ist die NATO aber kein Staat, sondern eine Organisation mit Sitz in Brüssel. Niemand attackiert sie militärisch, und gar an einer östlichen Flanke, wo sie verteidigt werden müsste! Und das gewaltsame Eindringen auf ein Gebiet, das von anderen als den eigenen Kräften beherrscht wird, kann eigentlich nicht als Verteidigung bezeichnet werden. In der üblichen Alltagssprache nennt man das einen Angriff. Freilich ist die NATO ein Verteidigungsbündnis. Deshalb ist Kreativität gefragt. Bezeichnen wir das gewaltsame Eindringen also vorwegnehmend als Vorwärtsverteidigung! Ist das ein spin, wie wir ihn aus der englischsprachigen Welt von den spin doctors kennen? Oder ein Narrativ, wie deutsche Medien gern sagen? Oder eine semantische Problematik, was die Germanisten beschäftigen würde? Eventuell wäre die Klärung erst vom französischen Strukturalismus, Unterabteilung Dekonstruktion, zu erwarten! Dekonstruktion meint Zerlegung. In Einzelteile. Diese können neu zusammengesetzt werden. Wie, das hängt von der Einsicht, dem Willen und auch den Wünschen des Dekonstrukteurs ab. Der Schwerpunkt der Großübung liege auf Südosteuropa, steht in der FAZ. Klar ist damit der Feind, dessen Gebiet wir vordringend zerlegen. Und zwar mit der auftragsgemäßen Absicht, uns zu verteidigen. Der Feind wird das richtig verstehen. Vorwärtsverteidigung als Aggression mißzuverstehen, wäre eine Unzartheit!

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