Sonntag, 28. April 2024

Me-Too auch gegen Frauen

Der Ersatz von Rechtssicherheit durch medial popularisierte Rufschädigung kann sich auch gegen Frauen richten. Einen solchen Fall habe ich selbst während meiner Anfänge als Journalist in München erlebt. Der Fall ist bis heute allgemein bekannt. Ich spreche von dem Urteil gegen Vera Brühne. Sie wurde wegen Mordes in zwei Fällen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, obgleich nur bewiesen war, dass sie unzuverlässige Aussagen über ihr Leben machte. Heute glaubt wohl niemand mehr, dass sie Mörderin war. Näheres kann gegoogelt werden und als abschreckendes Beispiel dienen. Noch viel furchtbarer sind die sogenannten Hexenprozesse gewesen. Man verurteilte Frauen auf Grund von Gerüchten. In seiner "cautio criminalis" warnte der in Kaiserswerth geborene Friedrich von Spee vor diesem Aberglauben. "cautio criminalis" bedeutet etwa, man solle bei der Beurteilung von Kriminalfällen vorsichtig sein. Wenn wir sonntags zur Suidbertus-Kirche in Kaiserwerth gehen, sehen wir ein schönes Relief zu Ehren des tapferen Streiters für Gerechtigkeit. Es ist im Netz zu finden, wie auch der Lebenslauf.

Samstag, 27. April 2024

Wie einst im Mai

Harvey Weinstein’s Conviction Was Fragile From the Start, meldet die New York Times mit heutigem Datum. Ich nicke finster, ahnte es schon lang.Meine Frau erinnert mich an den Fall Kachelmann, auch er wurde auf Grund einer Medienlkampagne ruiniert, ohne dass ihm eine Straftat nachzuweisen war. Zum Fall Weinstein fragt meine Angetraute, was sind das für Frauen, die sich für so etwas hergeben. Auch Monica Lewinski wäre ein Beispiel, meint sie. Ich hinwiederum reagiere instinktiv erst mal als früherer Gerichtsreporter: Was ist das für eine Justiz? Eine vorbildliche, erfahren wir durch alle uns noch zugänglichen Medien. Noch zugänglich - unsere Möglichkeiten, uns umfassend zu informieren, werden mehr und mehr eingeschränkt. Marionetten, der gerade durchsetzbaren Hasskampagne folgend, sollen wir sein. In USA und Frankreich scheint die akademische Jugend begriffen zu haben, wie unglaublich gefährlich die Entwicklung ist. Als ich gestern abend die Nachrichten hörte, klopfte mein Herz wie einst im Mai. Kann es sein, erleben wir wieder eine weltweite Studentenbewegung gegen Krieg und Mord? Für faire Medien? Einen traumhaften Augenblick lang war ich fünfzig Jahre jünger! "Gott soll's wollen!" war mein Abendgebet.

Donnerstag, 18. April 2024

Wer isst und wer gegessen wird

Der richtige Platz. „Wenn man im internationalen System nicht mit am Tisch sitzt, dann findet man sich sicherlich auf der Speisekarte wieder.“ Das hat der amerikanische Außenminister Anthony Blinken auf der Münchener Sicherheitskonferenz gesagt, wie DIE WELT auf der ersten Seite ihrer gestrigen Ausgabe als Tatsache meldet. Ferner meldet das Blatt als noch unbestätigtes Gerücht, der chinesische Präsident habe beim Vier-Augen-Gespräch im Teehaus zu Bundeskanzler Scholz gesagt: „Alle Länder müssen Platz haben am Tisch. Keines darf auf der Speisekarte stehen.“ Man wisse freilich nicht sicher, ob das eine Anspielung auf Blinkens Äußerung gewesen sei. Jedenfalls kommt in den gegensätzlichen Standpunkten prägnant zum Ausdruck, dass unser Schicksal von zwei Machtblöcken bestimmt wird. Der eine Block entscheidet, wer zu Tisch sitzt und isst und wer es sich gefallen lassen muss, verspeist zu werden. Der andere Block lädt alle Länder zum gemeinsamen Mahl ein. Wir dürfen uns entscheiden, welchem dieser zwei Machtblöcke wir die Zukunft unseres Planeten anvertrauen wollen.

Samstag, 6. April 2024

Generalstäbe

Beim Sender CNN hieß es, die USA bereiteten sich aktiv auf einen "erheblichen" Angriff in der kommenden Woche vor. Ranghohe US-Regierungsvertreter hielten demnach einen Vergeltungsschlag für unvermeidlich. Diese Annahme werde auf israelischer Seite geteilt. Krieg auch in Nah-Ost, da ist es gut, dass wir wieder einen Generalstab haben. Dass er nicht so heißt, liegt vielleicht daran, dass unsere Erfahrung mit Generalstäben eher ungünstig ist. Der 1. Weltkrieg war gut vorbereitet, endete dennoch nicht nach Wunsch. Der 2. endete damit, dass die Generalstäbler wegen verbrecherischer Kriegführung von den Siegermächten hingerichtet wurden - sofern sie nicht zuvor von Deutschen gehenkt worden waren, weil sie versucht hatten, die erwähnten Verbrechen zu verhindern. Beide Kriege sollten zunächst Russland für uns verfügbar machen, dann gar die ganze Erdkugel. Die Ziele sind dieselben geblieben. Sie dienen der Friedenssicherung, heißt es im Wahlkampf. Ob der aktuelle Generalstab wohl mehr Glück haben wird als die Vorgänger?

Dienstag, 26. März 2024

Was sich geändert hat...

… Und was nicht Der deutsche Generalstab der Dreißigerjahre war leicht zu überzeugen, dass Deutschland im Zeitalter der Düsenflugzeuge zu klein war, um Feinde abzuwehren – dass Raum gewonnen werden musste. Es wurde daher ein Reich geplant, das weit über die nationalen Grenzen hinaus reichen sollte. Deutsche Führung eines solchen Reiches war möglich, wenn nicht nur die begrenzte Zahl deutscher Wehrpflichtiger zur Verfügung stand. Es wurde daher an die Einbeziehung anderer Völker gedacht. Um die einheitliche Zielsetzung zu ermöglichen, missbrauchte man den Begriff der Rasse. Minderheiten wurden nicht, wie in der Sowjetunion, mit gleichen Rechten bedacht, sondern man sortierte aus. Unerwünschte Minderheiten durch Massenmord zu beseitigen, wurde als Realpolitik propagiert, „die andern treiben es schlimmer“. Das konnte die Welt nicht hinnehmen. Auch der Wahn von einer Weltherrschaft unter deutscher Führung musste scheitern. Dennoch wird die Strategie in unseren Tagen und vor unseren erstaunten Blicken wiederholt. Der Deutschland zur Verfügung stehende strategische Raum ist noch immer viel zu gering, ebenso die Zahl der Wehrpflichtigen. Wieder ist der deutsche Generalstab leicht zu überzeugen, dass ein Reich zu schaffen ist. Viele Völker sind einzubeziehen. Um die einheitliche Zielsetzung zu ermöglichen, missbraucht man den Begriff der Demokratie. Gemeint ist nicht mehr die Verantwortung von Regierenden gegenüber den Regierten, wie vordem üblich, sondern eine sogenannte Wertegemeinschaft. Wer sich ihr anschließt, gehört dazu und wird geduldet – alle anderen werden mit Vernichtung bedroht, wie jetzt die Russen mit völligem Ruin. Russisches Staats- und Privateigentum einfach wegzunehmen, an Geld und Sachwerten, wie Hitler tat, wird uns als akzeptabel, wenn nicht gar wünschenswert bezeichnet. Auch der Wahn von Weltherrschaft gilt wieder als selbstverständlich. Unsere wertebasierten Armeen greifen bereits nach Afrika und Asien aus. Die Kosten sind abermals, wie früher, durch Schulden finanziert, die Sonderfonds heißen, oder durch neokolonialistische Raubzüge. Statt vom Afrikakorps ist jetzt von Entwicklungshilfe die Rede, Errichtung von Demokratie das angebliche Ziel. Es ist damals wie heute nicht ohne Erpressung und militärisch gestützten Zwang durchzusetzen. Geraten die Kosten im Vergleich zum Nutzen außer Kontrolle, so folgen Abzug der Truppen und das Eingeständnis, um Demokratie sei es nie gegangen, wie der führende Politiker unseres Imperiums bezüglich Afghanistans überraschend wissen ließ. Deutsche Kontrolle ist dem Begriff von europäischer Souveränität gewichen, die von Frankreichs Präsident gefordert wird, der sie nicht bezahlen kann. Er bezieht Geld, wie wir, über sehr langfristig laufende Kredite, die von Parlamentariern genehmigt werden, die im Juni von uns gewählt werden wollen. Das Argument, uns an der Wahl zu beteiligen, besteht im wesentlichen aus der Mahnung, nur für solche Kandidaten zu stimmen, die unsere Werte teilen.

Sonntag, 24. März 2024

Une certaine idée

Widerspruch Sonntag, 24. März 2024 Une certaine idée Jean Améry hörte im Internierungslager von Gurs, wo neben vielen anderen aus Paris abgeschobenen Emigranten auch Hannah Arendt einsaß und mit Krimis von Simenon ihr Französisch aufbesserte: „La France a perdu une bataille, elle n´a pas perdu la guerre“, habe der unbotmäßige Brigadegeneral in London gerufen. Frankreich hat eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg? Es war eine große Hoffnung, mit der Charles de Gaulle von London aus, wohin er emigriert war, den innerfranzösischen Widerstand ermutigte. Festhalten sollten die Franzosen an einer bestimmten Vorstellung von Frankreich, à une „certaine idée de l a France“. Wenn das so ist, dann werden wir Deutschen wohl eine bestimmte Idee von Deutschland haben dürfen! Welche es sein könnte? Dich singe ich, Demokratie! Wieder beziehe ich mich auf Jean Améry, der in den Unmeisterlichen Wanderjahren darauf hinweist, dass es nur bürgerliche Demokratien gibt, aber nicht die bürgerliche Demokratie – wie es auch viele Sozialismen gibt, aber nicht den Sozialismus. Dass es für einen rechtlos gewordenen Emigranten einen Unterschied bedeutet, ob er die zugegeben relative Freiheit in einer bürgerlichen Demokratie erlebt oder die Verfolgung der Faschisten – hat er erlebt. Er teilt diese überaus wichtige Erfahrung mit Hannah Arendt nicht nur, auch mit Willy Brandt. Auch auf ihn beziehe ich mich als langjähriger Sozialdemokrat und erkläre: Da unsere Parteizentrale Willy Brandts Namen trägt, will ich Willy Brandts Politik von unserer Partei realisiert sehen! In unserer Parteiführung gibt es Kriegstreiber, die ich ablehne. Ich vertrete die Friedenspolitik von Brandt/Bahr und wehre mich entschieden gegen Angriffe von radikal-linker Seite, wo behauptet wird, jede bürgerliche Demokratie führe zum Faschismus. Man lese bei Améry nach, was den Irrtum verursacht.

Freitag, 22. März 2024

Nicht vergeben, nicht vergessen

Recht gegen Recht Von Stefan Gärtner 22.03.2024 12:10 Von Michael Molsner An leserbriefe@jungewelt.de. Dass die Mahnungen eines Linkssozialisten jetzt von der Rechten gegen die Linke eingesetzt werden können, liegt auch daran, dass die aktuellste Botschaft von Jean Améry verschwiegen wird. Er hat mit Nachdruck erklärt ("Jenseits von Schuld und Sühne"), dass er dem deutschen Volk nicht vergibt. Dass er eine Vergebung der Schuld des deutschen Volkes auch nicht plant oder diese Verweigerung etwa als psychischen Defekt empfinde und psychotherapeutisch zu "heilen" gedenke. Diese Verweigerung teilt er übrigens mit dem großen italienischen Autor Primo Levi, der als Partisan gegen die Faschisten gekämpft hat. Vergebung bedeutet nach Hannah Arendt, dem Betreffenden einen Neuanfang zuzutrauen. Weder Améry noch Levi haben von unserem Volk das geglaubt. Sie behalten recht, wir sind wieder bei denen, die kriegstüchtig werden wollen, nicht friedenstüchtig. Das wird offen und sozusagen "ehrlich" verlautbart und medial unterstützt, ja gefordert. Ich würde gerne hinzufügen, was in der jungen welt kaum eine Chance auf Veröffentlichung hat. Hannah Arendt leitet ihren Begriff von Vergebung von der Botschaft eines palästinensischen Wanderpredigers ab. Er habe die Kategorie der Vergebung in den Katalog der abendländischen Ethik eingeführt, wo diese Kategorie bis dahin nicht verbreitet oder auch nur allgemein bekannt gewesen sei. In den niedergeschriebenen Überlieferungen dieses Wanderpredigers wird die Verzweiflung seiner noch verbliebenen wenigen Schüler geschildert. Sie fragten sich, ob ihr Meister, nachdem er gekreuzigt worden war, vielleicht gelogen habe, als er von seiner Auferstehung und Wiederkunft sprach. (Die junge welt geht davon ohne weiteres aus). Dann erschien einem dieser Schüler, einem einfachen Fischer, dieser Meister in einer Vision und beauftragt ihn mit der Führung der Schülerschar. Petrus rief: Aber ich habe dich verraten! Er soll als Antwort gehört haben: Du bist der Fels, auf den ich meine Kirche baue. Ihm wurde der Neuanfang zugetraut. Ähnlich das zweite Beispiel. Ein keineswegs einfacher, vielmehr gebildeter Mann hatte sich im Dienste herrschender Kreise als Verfolger der neuen Lehre und ihrer Anhänger hervorgetan. Auf dem Weg nach Damaskus, wo er viele sogenannte Christen vermutete, die er zu vernichten dachte, erlitt er den bekannten Nervenzusammenbruch. Er hörte eine Stimme, die ihn beauftragte, in Damaskus die Christen aufzusuchen und ihnen zu erklären, er - Saulus von Tarsus - habe den Auftrag, die neue Botschaft nicht nur Juden zu bringen, sondern auch den Heiden im römischen Reich. Das war unter Christen nicht für möglich gehalten worden und überdies sehr gefährlich, weil Roms Kaiser ein Gott war und Rivalen mit Alleinstellungsanspruch kaum dulden würde. Doch Saulus übernahm den Auftrag. Er wagte den Neuanfang. Vergebung bedeutet, ich traue dir den Neuanfang zu. Wer A sagt, muss nicht B, C, D usf. sagen - man kann abbrechen und ein neues A setzen. Wir Deutschen können das nicht. We talk the talk, but we don't walk the walk. Michael Molsner, Duisburg Abonnent Homepage: http://www.michaelmolsner.de Blogs: http://presse-mike2.blogspot.com/